Brexit
Auch im Gesundheitswesen geht's ums Geld
Bald entscheiden die Briten, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht. Im Gesundheitswesen dreht sich die Diskussion vor allem um Behandlungskosten für EU-Bürger sowie um ausländische Ärzte und Pflegekräfte, die dringend gebraucht werden.
Veröffentlicht:LONDON. Am 23. Juni stimmen die Briten über einen Austritt aus der Europäischen Union ab.
Britische Unternehmen, Banken und Dienstleister warnen mehrheitlich vor einer Abschottung in Richtung Europa. Doch auch im britischen Gesundheitswesen und in der Ärzteschaft, bei Apothekern und Heilberufen sowie innerhalb der Pharmaindustrie gibt es derzeit hitzige Diskussionen, was ein "Brexit" für die Kliniken, Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen zwischen London und Liverpool bedeuten würde.
Dass die britische Gesellschaft, Wirtschaft und auch das staatliche britische Gesundheitswesen (National Health Service, NHS) stark von einem möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU tangiert sein wird, ist unstrittig.
Allerdings debattieren Ärzteschaft und Politiker seit Wochen bereits darüber, was ein Brexit für das staatliche Gesundheitswesen praktisch bedeuten würde. Und wie meist in Großbritannien geht es dabei zunächst einmal ums Geld.
Befürworter eines Brexit sagen, die EU sei "für den NHS ein sehr schlechter Deal". Diese Behauptung wird mit Zahlen untermauert: Im Jahr 2014 - neuere Statistiken seien noch nicht erhältlich - habe Großbritannien lediglich 50,3 Millionen Pfund (rund 60 Millionen Euro) von anderen EU-Mitgliedsländern, darunter Deutschland, für die medizinische Versorgung von EU-Bürgern in Großbritannien zurückgefordert.
Im selben Jahr freilich habe Großbritannien rund 750 Millionen Pfund an andere EU-Staaten überwiesen, um damit die gesundheitliche Versorgung für Briten im europäischen Ausland zu begleichen.
Häufiger Missbrauch von Gesundheitsleistungen?
"Das ist Wahnsinn und bedeutet, dass für jeden Euro, den wir von der EU für erbrachte Gesundheitsleistungen rückerstattet bekommen, wir der EU im Gegenzug 15 Euro überweisen", so ein Sprecher von "Vote Leave" zur "Ärzte Zeitung". "Logische Konsequenz" müsse daher ein Ausstieg aus der EU sein. "Vote Leave" ist eine der zwei Organisationen, die für einen Brexit werben.
Interessant: der Missbrauch des NHS durch Ausländer ist in jüngster Zeit zu einem zentralen Diskussionspunkt zwischen EU-Befürwortern und Gegnern avanciert. Das Thema wurde bereits mehrfach im Unterhaus besprochen.
So fragte kürzlich der Labour-Abgeordnete Frank Fields das Londoner Gesundheitsministerium, ob staatliche Hausärzte grundsätzlich von EU-Patienten zunächst einen Ausweis oder - besser - eine europäische Versicherungskarte (EHIC) verlangen müssten, bevor mit der Konsultation und Behandlung gestartet werden könne.
Die Antwort: Nein. "Britische Primärärzte brauchen Patienten nicht nach Identifikation fragen", so der stellvertretende Gesundheitsminister Alistair Burt. Es sei sogar "gegen das Gesetz", wenn Hausärzte die Behandlung von ausländischen Patienten ablehnten, weil diese sich nicht richtig ausweisen könnten.
Derartige Äußerungen sind natürlich Wasser auf die Mühlen der EU-Gegner, die keine Gelegenheit auslassen, um ein Bild von kranken, therapiesüchtigen EU-Patienten zu zeichnen, die nur darauf warteten, den britischen Gesundheitsdienst und damit den Steuerzahler übers Ohr zu hauen. Fields, der für einen EU-Austritt ist, wörtlich: "Unsere Gesundheitswesen hat weit offene Türen für Betrüger und Gesundheitstouristen!"
Das Londoner Gesundheitsministerium bestätigte der "Ärzte Zeitung", dass NHS-Hausärzte nicht verpflichtet seien, von europäischen Patienten zunächst eine EHIC-Karte zu verlangen, bevor behandelt wird. Freilich: "Das Gesundheitsministerium ist fest entschlossen, den Missbrauch unseres Gesundheitswesens zu stoppen."
Derzeit bereite man "neue Maßnahmen" vor, damit man spätestens 2018 jährlich bis zu 500 Millionen Pfund (rund 650 Millionen Euro) an verauslagten Gesundheitsausgaben von anderen Nationalstaaten zurückfordern könne.
Ausländische Fachkräfte wichtig für den NHS
Ein anderer und sehr wichtiger Aspekt für das britische Gesundheitswesen wird bei der Debatte um das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft nur selten überhaupt erwähnt: ausländische Ärzte und ausländisches Pflegepersonal gehören seit vielen Jahren zum NHS. Gesundheitsexperten halten den NHS ohne ausländisches Personal in den Arztpraxen und Krankenhäusern schlicht für nicht funktionstüchtig.
Und viele Ärzte und Krankenschwestern und -pfleger kommen derzeit aus dem EU-Ausland, um auf der Insel zu arbeiten. Sollten die Briten am 23. Juni tatsächlich für einen Austritt stimmen, ist unklar, ob diese ausländischen Arbeitskräfte gehalten werden können und wenn ja, auf welcher rechtlichen Basis.
So wundert es nicht, dass kürzlich zahlreiche Ärzte und Wissenschaftler in einem Offenen Brief an die Tageszeitung "Times" eindrücklich vor einem EU-Ausstieg warnten. Sowohl die Forschung als auch der Therapiefortschritt werde durch eine Abkehr von Europa "stark behindert", so die 188 Unterzeichner des Briefes.
Die EU bringe der britischen Medizin "viel mehr Vorteile als Nachteile". Und: "Ein Brexit wäre eine Katastrophe!" Ob derartige Warnungen freilich viele Briten beeindrucken wird, ist fraglich. Die jüngsten Meinungsumfragen zeigen, dass eine kleine Mehrheit der Bürger für einen Brexit ist.