Agenda 2010

Bittere Medizin für die Patienten

2003 startet die damalige Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010: Ihre Politik bringt große Veränderungen - auch im Gesundheitswesen. Die "Ärzte Zeitung" blickt zurück.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Gegen Ulla Schmidt: Ärzte und Praxisteams zogen am 18. Januar 2006 in einem Protestzug vor das Bundesgesundheitsministerium.

Gegen Ulla Schmidt: Ärzte und Praxisteams zogen am 18. Januar 2006 in einem Protestzug vor das Bundesgesundheitsministerium.

© Michael Hanschke / dpa

Abspecken und Verkrustungen aufbrechen: die Agenda-Politik galt ab 2003 auch für das Gesundheitswesen. Für Patienten und Versicherte bedeutete das Mehrbelastungen.

Die Ärzte an der Basis bekamen mehr Flexibilität und Freiheit. KVen und Bundesausschuss wurden reformiert. Ein Hauch von Wettbewerb sollte in das korporatistische System einziehen. Die entscheidenden Reformen für das Gesundheitswesen:

GMG 2003: Fokus auf mehr Effizienz

Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), das am 1. Januar 2004 in Kraft tritt, ordnet mit schmerzhaften Eingriffen für Versicherte und Patienten Solidarität und Subsidiarität neu - das Leistungsangebot soll auf mehr Effizienz getrimmt werden, auch durch Wettbewerb. Die wichtigsten Instrumente:

Neues Beitragsrecht: die paritätische Finanzierung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird aufgegeben; den Versicherten wird ein Sonderbeitragssatz von 0,9 Prozent auferlegt. Zusätzliche Belastung: etwa neun Milliarden Euro.

Leistungseinschnitte: rezeptfreie Arzneimittel werden - von wenigen vom Bundesausschuss zu definierenden Ausnahmen - aus der Leistungspflicht genommen; keine Härtefallregelung. Ersparnis für die Kassen: 1,6 Milliarden Euro. Zum 1. Januar 2004 wird die Praxisgebühr von zehn Euro für den ersten Arzt- und Zahnarztbesuch im Quartal eingeführt. Belastung für Patienten: zwei Milliarden Euro.

Organisationsreform: Die KVen werden nach dem Vorbild der Kassen professionalisiert. KV-Vorstände werden hauptamtlich, Ämterhäufung wird unmöglich, ärztliche Tätigkeit in der Praxis stark eingeschränkt. Die je vier KVen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden zwangsvereinigt.

Der Bundesausschuss wird professionalisiert und bekommt eine Patientenvertretung; zumindest die Transparenz wächst. Mit dem IQWiG wird ihm ein wissenschaftliches Institut zu Seite gestellt.

Effizienz und Wettbewerb: Für Arzneimittel wird erstmals die Nutzenbewertung eingeführt. Zuständig sind der Bundesausschuss und das IQWiG, das darüber hinaus die Aufgabe bekommt, Gesundheitsleistungen auf Effizienz zu evaluieren. Aufgaben soll der Bundesausschuss konkretisieren.

Als Alternative/Ergänzung zur Kollektivvertragsversorgung werden Hausarzt- und Facharztverträge (Paragraf 73 b und 73 c) kodifiziert.

Die Integrationsversorgung wird vereinfacht und bekommt eine Anschubfinanzierung. Die ambulante Versorgung wird durch Medizinische Versorgungszentren ergänzt, deren Träger auch Nichtärzte sein können und in denen Ärzte auch im Angestelltenstatus tätig sein können.

WSG: Neue Regeln für die Finanzierung

Mit der Rede Gerhard Schröders vor zehn Jahren begann eine Großreform auch in der Gesundheitspolitik, die Teile der SPD am liebsten vergessen machen möchten.

Mit der Rede Gerhard Schröders vor zehn Jahren begann eine Großreform auch in der Gesundheitspolitik, die Teile der SPD am liebsten vergessen machen möchten.

© dpa

Spargesetz vor Strukturgesetz: Das Arzneiversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) vom Mai 2006 wird für Ärzte, Apotheker und Pharma-Industrie zum Reizthema.

Die Instrumente: Bonus-Malus-Regelung für Ärzte bei Unter-/Überschreitung von Verordnungsvorgaben, Preismoratorium, Verbot der Abgabe von Naturalrabatten durch Hersteller an Apotheken, Einführung von Preisobergrenzen unterhalb von Festbeträgen; billigere Arzneimittel werden von der Zuzahlung befreit.

Das Wettbewerbsstärkungsgesetz(WSG) tritt am 1. April 2007 in Kraft. Im Kern regelt es die Kassenfinanzierung neu, schafft einen Kontrahierungszwang für die private Krankenversicherung, verschärft den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt und löst die strikte Budgetierung der vertragsärztlichen Honorare durch eine Morbiditätsorientierung ab.

Neue Finanzierungssystematik der Kassen: Der Gesundheitsfonds wird geschaffen. An ihn fließen Beitragseinnahmen der Kassen (staatlich einheitlich vorgegebener Beitragssatz) und ein Zuschuss aus dem Bundeshaushalt.

Der Fonds errechnet nach dem neuen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich die Zuweisungen der Finanzmittel an die Kassen. Reicht dies nicht, müssen die Kassen einen Zusatzbeitrag (mit Sozialausgleich) bei ihren Versicherten erheben, bei Überschüssen Prämien ausschütten.

PKV: Sie muss ehemalige aktuell nichtversicherte Mitglieder aufnehmen; ein solidarisch finanzierter Basistarif wird geschaffen.

Arzneimittelversorgung: Bislang schon mögliche Rabattverträge zwischen Arzneiherstellern und Kassen werden effektiv gemacht, indem Apotheker zur Abgabe rabattierter Medikamente verpflichtet werden.

Neue Vergütungssystematik für Vertragsärzte: Das Paradigma der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik wird aufgegeben. Die Weiterentwicklung der Gesamtvergütung sollen sich an der Morbidität orientieren. Der Punktwert wird im Voraus fixiert. Ziel: mehr Kalkulationssicherheit.

Tatsächliche Wirkung: Bislang einmalige Stabilität der GKV-Finanzen; neue Vergütungssystematik für Vertragsärzte hoch komplex und daher wenig befriedigend.

Liberales Recht für Vertragsärzte

Das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz liberalisiert ab 2007 die Berufsausübung der Vertragsärzte:

› Vertragsärzte können Kollegen auch anderer Fachrichtungen in ihrer Praxis anstellen.

› Vertragsärzte können parallel in eigener Praxis und in der Klinik arbeiten.

› Vertragsärzte können sich in überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaften interdisziplinär auch über KV-Grenzen hinweg zusammenschließen.

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