Interview
Bündnis Kinder- und Jugendreha: „Wir haben kurzfristig nicht genügend Reha-Plätze“
In den Reha-Kliniken für Kinder und Jugendliche zeigt sich, wie sehr viele Mädchen und Jungen während der Corona-Pandemie belastet waren. Alwin Baumann vom Bündnis für Kinder- und Jugendreha (BKJR) erläutert die aktuelle Problemlage.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Welche Diagnosen sind bislang in der Kinder- und Jugendreha angekommen, die im Kontext mit der Corona-Pandemie und des Lockdowns sind?
Alwin Baumann: Die Rehabilitationen von Kindern und Jugendlichen sind 2020 um etwa 30 Prozent zurückgegangen. Insbesondere wurden fast 50 Prozent weniger Reha-Leistungen aufgrund von Atemwegserkrankungen wie Asthma und chronischer Bronchitis beantragt. Das Tragen der Masken hat dazu geführt, dass die Atemwegsinfekte bei den Kindern und Jugendlichen deutlich zurückgegangen sind. Auch wurden für Jugendliche weniger Reha-Leistungen beantragt. Vermutlich hat dies mit den Schulschließungen zu tun und der dadurch ausgelösten Angst, noch mehr vom Unterricht zu versäumen. Der Rückgang ist auch eine Folge des Lockdowns zu Beginn der ersten Welle, der hygienebedingten Minderbelegung oder der zeitweisen Schließung der Kliniken.
Wie sieht es mit den psychosomatischen Diagnosen aus?
Die Rehabilitationen sind hier mit fast 8000 auf ähnlichem Niveau wie vor der Pandemie geblieben. Da viele Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten an ihre Grenzen kamen, wurde offensichtlich auf eine Rehabilitation ausgewichen. Unabhängig davon lassen sich innerhalb der psychosomatischen Diagnosen pandemiebedingte Veränderungen ablesen. So gibt es eine Verschiebung zu Angst- und Anpassungsstörungen sowie zu Depressionen und zu Sprachentwicklungsstörungen.
Sprachentwicklungsstörungen haben auch zugenommen?
Es gibt seit Jahren vermehrt Störungen der Sprachentwicklung, die in der Reha behandelt werden. Kinder lernen die Sprache hauptsächlich im Austausch mit anderen Kindern. Im Lockdown war dies kaum möglich, so gibt es jetzt einen vermehrten Bedarf an Reha-Behandlungen. Wir haben jedoch dafür kurzfristig nicht genügend Plätze. Die Wartezeit beträgt bei dieser Diagnose teilweise über ein halbes Jahr, bei anderen Diagnosen etwa drei Monate.
Reha-Mediziner berichten auch von Adipositas und Essstörungen – gibt es dazu auch Zahlen?
Nationale und internationale Studien belegen nachvollziehbar eine Gewichtszunahme von Kindern und Jugendlichen durch den Bewegungsmangel während der Pandemie. In der Kinder- und Jugendreha zeigt sich der Effekt erst zeitlich verzögert, so dass noch keine belastbaren Zahlen vorliegen.
Alwin Baumann
- Position: Bis 2017 stellvertr. Krankenhausdirektor der Fachklinik Wangen und langjähriger Leiter der dortigen Rehabilitationskinderklinik
- Sprecher des Bündnisses für Kinder- und Jugendreha
- Werdegang: Studium der Sozialpädagogik, 1982 pädagogischer Leiter der Fachkliniken Wangen.
Zum Vergleich: Wie sieht es mit den Post- oder Long-COVID-Fällen in der Reha aus?
Kinder und Jugendliche sind davon weniger als Erwachsene betroffen. Bisher wurden rund 100 Jugendliche zur Reha aufgenommen, vor allem in neuropädiatrische, aber auch in pneumologische oder in psychosomatische Reha-Kliniken.
Eine Kinder- und Jugendreha dauert im Durchschnitt 30 Tage. Was kann da erreicht werden?
In einer Reha geht es immer um Teilhabe – also darum, mit den eigenen Problemen und der eigenen Gesundheit besser zurechtzukommen. So lernen das Kind, der Jugendliche und seine Eltern in der Rehabilitation beispielsweise die Anwendung der richtigen Salbenpflege bei Neurodermitis, die korrekte Inhalationstherapie bei Asthma oder das konfliktfreie Verhalten bei ADHS. In den vier Wochen gelingt es über die Erkrankung besser Bescheid zu wissen, mit der Therapie zurechtzukommen und ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Ein Kind kann nicht eigenständig einen Reha-Antrag stellen, wenn es unter dem familiären Stress oder unter den fehlenden sozialen Kontakten leidet. Erreicht die Reha die Kinder und Jugendlichen, die diese Unterstützung dringend brauchen?
Reha-Leistungen unterstützen Kinder und Jugendliche, die länger andauernde gesundheitliche Probleme haben, die sich chronifizieren und darüber die Teilhabe an der Gesellschaft gefährden. Laut KiGGS-Studie würde eine halbe Million Kinder und Jugendliche von einer Reha profitieren. Leider wissen viele Multiplikatoren aus dem Umfeld der Kinder nichts von einer Reha. Und schon gar nicht, dass insbesondere die Rentenversicherung Rehabilitationen für Kinder und Jugendliche finanziert.
Linktipp: Zum Webauftritt desBündnis für Kinder- und Jugendreha/