Vor 25 Jahren
Der Aids-Skandal und die Zerschlagung des BGA
Vor 25 Jahren, am 1. Juli 1994, hörte das Bundesgesundheitsamt (BGA) auf zu existieren. Auslöser war der Skandal um HIV-kontaminierte Blutprodukte und die Infektion von Hämophilie-Patienten mit dem HI-Virus. Dem tödlichen Drama war ein Jahrzehnt des Missmanagements in der obersten deutschen Gesundheitsbehörde vorausgegangen.
Veröffentlicht:Es war ein Paukenschlag auf einer Sondersitzung des Bundestags-Gesundheitsausschusses, auf der Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer am 9. Oktober 1993 die Auflösung des ihm unterstehenden Bundesgesundheitsamtes (BGA) und seine Zerlegung in einzelne übersichtlichere Institute ankündigte. Auslöser war der Skandal um HIV-kontaminierte Blutprodukte.
Im Zentrum der Kritik: das Bundesinstitut für Arzneimittel. Seehofers Vorwurf: Ihm seien Daten zu 373 Infektionen von Hämophilie-Patienten, davon zehn Fälle nach 1985, verschwiegen worden. Die personellen Konsequenzen: BGA-Präsident Professor Dieter Großklaus wurde in Pension geschickt, der Leiter der Arzneimittelsicherheit im Arzneiinstitut Professor Gottfried Kreutz beurlaubt, der Leiter der Abteilung Gesundheitsversorgung im Bundesgesundheitsministerium, Ministerialdirektor Professor Manfred Steinbach, als politischer Beamter entlassen.
Ende Oktober 1993 setzte der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein, der die Ursachen des HIV-Bluter-Skandals aufklären sollte.
Ein Jahrzehnt im Chaos
Dieser Skandal war aber nur der äußere Anlass für Seehofer, die Berliner Behörde – mit rund 3000 Mitarbeitern um ein Vielfaches größer als das Bonner Ministerium – aufzulösen. Vorangegangen war fast ein Jahrzehnt der politischen und administrativen Versäumnisse in der Verantwortung der Vorgänger und Vorgängerinnen Seehofers, die vor allem die Herausforderungen für das Arzneimittelinstitut des BGA konsequent ignoriert hatten.
Die Ursachen der in der Tat chaotischen Zustände in diesem Institut reichten fast zwei Jahrzehnte zurück: ins Jahr 1976, in dem die erste Novelle des Arzneimittelgesetzes beschlossen wurde, die 1978 in Kraft trat. Kernstück der Reform war der Nachweis der Wirksamkeit von Arzneimitteln – bis dahin mussten, als Reaktion auf den Contergan-Skandal, nach dem Anfang der 1960er Jahre beschlossenen Arzneimittelgesetz nur Qualität und Unbedenklichkeit nachgewiesen werden.
Für Neuzulassungen wurde der Wirksamkeitsnachweis sofort mit Inkrafttreten der Novelle gefordert, für die bereits zugelassenen über 50.000 Altarzneimittel gewährte der Gesetzgeber eine Nachzulassungsfrist bis zum Jahr 1990.
Mit dieser Mammutaufgabe war das Arzneiinstitut völlig überfordert und wurde vom vorgesetzten Ministerium allein gelassen. Es dauerte mehr als sieben Jahre, bis die mit Sachverständigen aus Pharmazie und Medizin besetzten Nachzulassungskommissionen besetzt waren.
Ein weiteres Problem entstand, weil der Gesetzgeber Generika-Herstellern die bezugnehmende Zulassung ermöglichte, die Folge war eine gigantische Antragsflut für Nachahmerpräparate. Konnten bis Mitte der 1980er Jahre etwa 1000 Zulassungsanträge jährlich abgearbeitet werden, so saß das Institut Anfang der 1990er Jahr auf einem Berg von rund 11.000 nicht bearbeiteten Anträgen auf Neuzulassungen von Arzneimitteln, die im Hof in Wellblechgaragen gelagert waren. Hinzu kam die Nachbearbeitung der über 50.000 vor der AMG-Novelle zugelassenen Alt-Medikamente.
Die Missstände waren in Bonn durchaus bekannt: 1985 veranlasste der Haushaltsausschuss des Bundestages eine Sonderprüfung durch den Bundesrechnungshof. Der stellte eine Unter- und Fehlbesetzung mit Personal, teilweise mit Verstößen gegen Haushaltsrecht fest. Für die Nachzulassung gab es viel zu wenig Gutachter.
1991 konstatierte die Unternehmensberatung Mummert & Partner, dass von den Vorgaben des Bundesrechnungshofs so gut wie nichts umgesetzt worden war. Nur ein Drittel ihrer Arbeitszeit verwendeten die Mitarbeiter für fachliche Zwecke, auch deshalb, weil es binnen sechs Jahren nicht gelang, eine taugliche EDV zu installieren, wie Institutsleiter Alfred Hildebrandt vor dem Gesundheitsausschuss eingestand.
Frustrierte Mitarbeiter
Die Folgen waren gravierend: Von 268 Stellen im Arzneiinstitut waren zwölf nicht besetzt, aber 57 Stellen waren unter Verstoß gegen Haushaltsrecht anderweitig (beispielsweise Frauenpolitik) verwendet worden. Neben über 10.000 Anträgen auf Neuzulassungen stand das Institut vor einem Berg von 80.000 Änderungsanträgen bei der Nachzulassung der Altarzneimittel.
„Die vorhandenen Strukturen und Entscheidungsmechanismen im Bundesgesundheitsamt müssen jeden qualifizierten Wissenschaftler demotivieren“, stellte der FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Bundestags-Gesundheitsausschusses Dr. Dieter Thomae fest.
Dort, vor den Abgeordneten, führte auch Amtschef Großklaus, bewegte Klage: Trotz bewilligter Stellen gelinge es nicht, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, weil diese in „demotivierenden“ Zeitverträgen zu deutlich schlechteren Konditionen als in der Industrie beschäftigt werden müssten.
„Das Arzneimittelinstitut säuft ab“, konstatierte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller, Dr. Mark Seidscheck.
Derweil kümmerten sich die Minister und Ministerinnen für Gesundheit nur mit dem kleinen Finger der linken Hand um die komplexen Probleme des BGA mit seinen Instituten:
Heiner Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit von 1982 bis 1985, war nur Minister im Nebenamt, in der Hauptsache Generalsekretär der CDU (1977 bis 1989) und mit der Organisation von Wahlkämpfen beschäftigt. Ohne Sprechzettel oder Soufflage seines Abteilungsleiters Gesundheit, Manfred Steinbach, wirkte Geißler hilflos.
Rita Süssmuth (1985 bis 1988) erweiterte das Ministerium um Frauenpolitik. Unbestritten sind ihre Verdienste um die Entstigmatisierung der von HIV und Aids betroffenen Menschen und gegen die damals diskutierte Repressionspolitik zugunsten von Aufklärung und Prävention. Aber administrativ ließ sie die Zügel schleifen.
Ursula Lehr (1988 bis 1991), Altersforscherin aus Heidelberg, ergänzte das zerfaserte Ministerium um Seniorenpolitik. Nach nur drei Jahren schickte Kanzler Kohl die Wissenschaftlerin in den Ruhestand.
Gerda Hasselfeldt (1991 bis 1992) kam aus dem Bauministerium und erhielt zusätzlich aus dem Amtsbereich von Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm die Zuständigkeit für die Krankenversicherung. Blüm rächte sich für diesen Machtverlust mit massiver Behinderung beim Ausbau des aufgewerteten Gesundheitsressorts, indem er die bis dato zuständigen Beamten für Krankenversicherung für die Pflege requirierte.
Horst Seehofer (1992 bis 1998) übernahm das Amt, als die Kosten in der GKV explodierten. Mit harter Hand und erfolgreich sanierte er die Kassenfinanzen, bis ihn 1993 die Auswirkungen des HIV-Bluter-Skandals erreichten.
Seehofer reagierte mit der Zerschlagung des BGA und zog personelle Konsequenzen. Das verselbstständigte Arzneimittelinstitut wurde in Bonn angesiedelt und brauchte mehr als zehn Jahre für die Restrukturierung und personelle Aufstockung, um zu seiner heutigen Leistungsfähigkeit zu gelangen.
Zusammen mit dem Paul-Ehrlich-Institut in Langen ist es heute eine wichtige Säule im Verbund der europäischen Arzneibehörden und hat einen Großteil von Aufgaben der britischen Behörde übernommen.
Aids-Bluter-Skandal
- 1500 Bluter wurden in den 1980er Jahren durch kontaminierte Faktor VIII-, Faktor-IX und PPSP mit HIV infiziert. Über 1000 davon sind inzwischen an Aids gestorben.
- Als einen der Hauptverantwortlichen identifizierte der Bundestagsuntersuchungsausschuss das damalige Bundesgesundheitsamt, auch deshalb wurde der Skandal ein Fall für die Staatshaftung.
- Das Versicherungssystem der Industrie versagte teilweise. Mehrfach wurde der staatliche Fonds zur Entschädigung der Opfer aufgestockt.
- Seit 2016 erhalten die noch lebenden 446 Bluter und 78 Personen, die sich bei Blutern mit HIV angesteckt haben, eine Rente von 760 Euro monatlich und 1500 Euro, wenn sie an Aids erkrankt sind. Kinder bekommen 500 Euro.