Kodieren für den RSA

Die Versorgung gerät aus dem Blick

Mit seinem Interview in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" im Oktober 2016 über die Bedeutung des Kodierens für die Finanzströme zwischen den Kassen hat der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Dr. Jens Baas, für Furore gesorgt. Sein Vorstoß hat ihm viel Lob, aber auch heftige Kritik eingebracht.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Die Versorgung gerät aus dem Blick

© Michaela Illian

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Baas, was sagen Sie zum Vorwurf von Dr. Nordmann, dem Vorstand der KV Westfalen-Lippe, die TK habe als eine der ersten Kassen den Ärzten Kodierhilfen angeboten?

Dr. Jens Baas: Ich habe mich sehr gewundert. Ich kenne den Kollegen Nordmann nicht persönlich, er hat auch nie das Gespräch mit mir gesucht. Seine Aussagen sind leider falsch. Die TK hat keinen Ärzte-Außendienst, der "an den Türen der Praxen klingelt", und das Thema korrekte Kodierung haben wir erst Jahre nach vielen AOKen notgedrungen adressieren müssen.

Verstehen Sie denn den Ärger von Ärzten und anderen Krankenkassen darüber, dass sie Ihnen Manipulationen und damit illegales Handeln vorgeworfen haben?

Das "illegal" ist leider von der Presse in die Diskussion gebracht worden. Das Problem, auf das ich wiederholt hingewiesen habe, ist im Gegenteil, dass Krankenkassen und Ärzte in den allermeisten Fällen eben gerade nichts Illegales tun. Wir schätzen, dass die Krankenkassen bisher schon etwa eine Milliarde Euro dafür ausgegeben haben, über Versorgungsverträge für die korrekte Kodierung zu sorgen, sogenanntes "Right-Coding". Das ist völlig legal und im Risikostrukturausgleich so angelegt, und genau das ist der eigentliche Skandal! Wenn es dann vereinzelt Kassen gibt, die den Rahmen des Legalen verlassen, sogenanntes "Up-Coding", ist das umso schlimmer, hier hat der BVA ja auch schon mit Millionenstrafen reagiert. Ökonomisch ist es heute klüger, zehn Euro in die Kodierung eines Herzinfarkts zu investieren, statt sie in die Sekundärprävention des Reinfarktes zu stecken. Aber so sinnvoll das ökonomisch sein mag, moralisch und aus Versorgungssicht ist es grundfalsch! Zum Glück sehen das viele ärztliche Kollegen, auch KV-Vorstände, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, genauso.

Ist das ein Plädoyer für neue Kodier-Richtlinien?

Kodier-Richtlinien allein reichen nicht. Sie helfen sicher etwas, bescheren dafür aber den Ärzten noch mehr Arbeit, ohne etwas am Grundproblem zu ändern. Die Koppelung von ambulanter Kodierung und Geld für die Krankenkassen ist fatal, sie setzt die falschen Anreize. Die Versorgung als eigentliche Aufgabe einer Krankenkasse droht aus dem Blick zu geraten. Das führt dazu, dass meine "hippen Jung- und Gutverdiener"-TK-Mitglieder, wie Herr Nordmann sie nennt, mit ihrem hohen Durchschnittsverdienst die Versicherten anderer Kassen mitfinanzieren, die an die TK aus dem RSA zurückfließenden Mittel aber nicht mehr ausreichen, um diese Mitglieder selbst zu versorgen. Die AOKen dagegen haben alleine 2015 aus dem RSA eine Milliarde Euro mehr erhalten, als zur Deckung ihrer Leistungsausgaben nötig gewesen wäre. Die Ersatzkassen auf der anderen Seiten verbuchten eine Unterdeckung von 730 Millionen Euro.

Was muss passieren, damit sich das ändert?

Ein Risikostrukturausgleich unter den Krankenkassen ist weiter nötig, muss aber neu gestaltet werden. Da gibt es verschiedene sinnvolle Möglichkeiten: etwa eine Veränderung bei den Krankheiten, die im RSA berücksichtigt werden – hin zu einer stärkeren Gewichtung von schweren und teuren Krankheiten –, oder die Berücksichtigung regionaler Faktoren. Die Schweiz verzichtet zum Beispiel ganz auf ambulante Diagnosen. Es muss aber schnell etwas passieren. Was heute kodiert wird, hat eine Nachlaufzeit von zwei bis drei Jahren. Wenn wir nicht bald etwas ändern, wird es bei einigen Kassen an die Existenz gehen.

Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Interview etwas bewirkt hat?

Es hat auf jeden Fall das Problembewusstsein bei der Politik geweckt. Ich bin optimistisch, dass weiter Bewegung in die Diskussion kommt. Es ist positiv, dass sich die Aufsichtsbehörden des Themas Betreuungs-Strukturverträge und Kodierverhalten angenommen haben. Entscheidend wird aber sein, wie die einzelnen Aufsichten damit umgehen. Der schlimmste Fall wäre, dass die Verträge bei den bundesweiten Kassen verboten werden, die Landesbehörden sie aber bei den regionalen Kassen stillschweigend billigen. Dann könnten in ein paar Jahren alle Krankenkassen bis auf die AOKen zumachen. Das kann auch nicht im Sinne der Ärzte sein.

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