Pflegestärkungsgesetz II
Eine ehrgeizige Reform mit Haken und Ösen
Fast zehn Jahre lang sind Vorschläge entwickelt worden, jetzt hat der Bundestag grünes Licht gegeben: Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wird neu definiert. Das am Freitag verabschiedete Gesetz bietet viele Chancen - und ist nicht frei von Widersprüchen.
Veröffentlicht:BERLIN. Gäbe es eine Hitparade technokratischer Formulierungen im Gesundheitswesen, dann hätte der Pflegebedürftigkeitsbegriff allerbeste Chancen, einen Spitzenplatz zu belegen. Ein Wortungetüm mit acht Silben und 27 Buchstaben, kilometerweit entfernt vom Alltagsvokabular der Menschen, für die die Inhalte des Begriffs von allergrößter Bedeutung sind.
Mindestens seit dem Jahr 2006 ist das Monsterwort regelmäßig Thema bei gesundheitspolitischen Diskussionen gewesen. Die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs - eine unendliche Geschichte.
Wer ist pflegebedürftig - und warum? Am Freitag hat der Bundestag den zweiten Teil des Pflegestärkungsgesetzes verabschiedet, das neue und differenzierte Antworten auf diese Frage liefert. Die bisher geltenden drei Pflegestufen werden zu fünf Pflegegraden ausgebaut. Berechnungen gehen von bis zu 500.000 neuen Anspruchsberechtigten in den nächsten Jahren aus.
Nachteile für Alt-Pflegefälle soll es nicht geben. Erstmals bekommen alle Pflegebedürftigen einen gleichberechtigten Zugang zu Pflegeleistungen - unabhängig davon, ob sie an körperlichen Beschwerden oder an einer Demenz erkrankt sind.
Auf zu neuen Ufern
Also grünes Licht und auf zu neuen Ufern in der Pflege? Vorsicht: Die großen Herausforderungen werden erst noch erst kommen. Wer sich an den Start der Pflegeversicherung Mitte der neunziger Jahre erinnert, der weiß, wie quälend lange die Einstiegsphase verlief. Im Schneckentempo gelang es der Selbstverwaltung, nach und nach die Probleme bei der Einstufung der Versicherten in den Griff zu bekommen.
Die mit dem aktuellen Gesetz entstandene neue Welt der fünf Pflegegrade ist aber wesentlich komplexer. Zwar ist das neue Verfahren bereits getestet worden. Doch mit Blick auf das, was die Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Kassen in Sachen Einstufung in Zukunft erwartet, waren die Herausforderungen vor 20 Jahren geradezu bescheiden.
Extrem anspruchsvoll stellen sich auch die Überleitungs- und Bestandsschutzregelungen für Menschen dar, die bereits nach dem alten Pflegestufensystem Leistungen erhalten. Sie werden sich auf keinen Fall verschlechtern, versichert Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe - und stößt auf massiven Widerspruch von Kritikern, der mit vielen Zahlen belegt wird.
Klar ist, dass der viel zitierte Bestandsschutz im neuen Gesetz keine Einbahnstraße sein darf. Zurecht verlangen auch Pflegeheime und Pflegekräfte verlässliche Regelungen, um finanzielle und personelle Verschlechterungen nach der Umstellungsphase auf das neue Begutachtungssystem auszuschließen.
Wie viel Personal allerdings tatsächlich benötigt wird, bleibt auf absehbare Zeit im Dunkeln - und das ist ein echter Schwachpunkt des neuen Gesetzes. Es sieht vor, dass bis Ende 2016 die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens in Auftrag gegeben wird, das den Personalbedarf in Pflegeeinrichtungen einheitlich misst.
Ergebnisse sollen bis spätestens Mitte 2020 vorliegen. Gemessen an der Dynamik des Prozesses ist das ein abenteuerlich langer Zeitraum. Hier sind Konflikte geradezu programmiert.
Ein unattraktiver Beruf
Leistungsverbesserungen, die das Gesetz verspricht, kann es nur geben, wenn genügend Pflegekräfte vorhanden sind. Dieses Ziel zu erreichen, ist eine mehr als anspruchsvolle Aufgabe. Der Pflegeberuf - und diese Erkenntnis ist nicht neu - kann vor allem junge Menschen als Perpektive für ihre eigene berufliche Zukunft kaum begeistern.
Mag Hermann Gröhe auch noch so deutlich darauf hinweisen, dass aktuell so viele Pflegeschüler in den Beruf einsteigen wollen wie nie zuvor: Es ist bislang nicht gelungen, diese Arbeit in unserer Gesellschaft wirklich attraktiv zu machen.
Das liegt nicht nur an der Bezahlung, sondern auch daran, dass schlicht und ergreifend die gesellschaftliche Wertschätzung für Pflegekräfte fehlt. Mit Blick auf die ehrgeizigen Leistungsverbesserungen, die das neue Gesetz verspricht, sind das keine wirklich günstigen Perspektiven.
Bei aller Kritik im Detail sollte aber eines nicht vergessen werden: Mit der Pflegereform wird ein wichtiger Schritt zu größerer Gerechtigkeit gemacht - insbesondere für Menschen mit Demenz.
Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist deshalb ein Meilenstein. Jetzt muss es darum gehen, trotz vieler berechtigter Vorbehalte die damit verbundenen Chancen zu nutzen. Gesetze ohne Haken und Ösen wird es nie geben - schon gar nicht in der Pflege.