Inzidenz-Debatte
Fachleute warnen vor eindimensionalen Corona-Markern
Die Inzidenz der Neuinfektionen soll weitgehend durch die Hospitalisierungs-Inzidenz ersetzt werden. Fachleute warnen davor und plädieren für tiefer differenzierte Warninstrumente. Am Dienstag tagt dazu der Gesundheitsausschuss.
Veröffentlicht:Berlin. Die Formel für die Messung der Vierten Corona-Welle ist noch nicht gefunden. Am Dienstag berät der Gesundheitsausschuss einen Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Der sieht vor, die Sieben-Tage-Inzidenz der wegen COVID in den Krankenhäusern aufgenommenen Patienten zum „wesentlichen Maßstab“ für das Ergreifen von Schutzmaßnahmen zu machen. Die bisher geltende Inzidenz der Neuinfektionen soll nur noch eine Nebenrolle spielen. Fachleute sind mit den Plänen nicht rundum glücklich. Die Pläne zur Änderung des IfSG sollen mit dem „Aufbauhilfegesetz“ beraten und verabschiedet werden.
DIVI-Experte sieht Änderungsbedarf
Mit Professor Christian Karagiannidis hat ein führender Intensivmediziner in einer Stellungnahme die Ausrichtung des Gesetzentwurfes kritisiert. Die weitgehende Ausrichtung an der Hospitalisierungsrate, wie dies der Änderungsantrag vorsehe, lasse die Infektionsdynamik und mit der Inzidenz der Neuinfektionen ein wichtiges Frühwarnsystem außer Acht.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und medizinisch-wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters plädiert für eine gleichzeitige Berücksichtigung der Sieben-Tage-Inzidenz der Infektionen auf je 100.000 Einwohner, die Zahl der Neuaufnahmen von COVID-Patienten in Krankenhäusern je 100.000 Einwohner binnen einer Woche und den Anteil der COVID-Patienten auf Intensivstationen.
Die Inzidenz der Neuinfektionen bleibe der wichtigste Frühindikator, weil sie sowohl die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Infektionen als auch Alter und regionale Verteilung als „frühester Parameter“ wiedergebe. Besonders ins Auge genommen werden sollten die Sieben-Tages-Inzidenzen der über 35-Jährigen, schreibt Karagiannidis. Sie dominierten im Wesentlichen die Belegung der Intensivstationen. Der Impffortschritt in dieser Altersgruppe sollte daher im Auge behalten werden. Jüngere Altersgruppen seien auf Intensivstationen „deutlich seltener“.
Aufmerksamer Blick auf die über 35-Jährigen
Liege die Sieben-Tage-Inzidenz der über 35-Jährigen jenseits von 100, sei das eine rote Linie. Das gelte ebenso für eine Hospitalisierungs-Inzidenz von zehn COVID-Neuaufnahmen je Woche und eine Belegung der Intensivstationen zu 15 Prozent oder mehr mit COVID-Patienten. Der Impffortschritt in dieser Altersgruppe sollte daher im Auge behalten werden. Jüngere Altersgruppen seien auf Intensivstationen „deutlich seltener“.
Sobald die Intensivstationen zu etwa 15 Prozent mit COVID-Patienten belegt seien, müsse davon ausgegangen werden, dass vor allem die Maximalversorger, Universitätskliniken und Schwerpunktkliniken aus dem Regelbetrieb heraus müssten, um alle Patienten adäquat versorgen zu können, merkt Karagiannidis an. Das würde ein Aufschieben von Operationen und Einschränkungen bei der Behandlung von Nicht-COVID-Patienten bedeuten.
Schrappe und Knieps schlagen „Indikatoren-Sets“ vor
Eine Gruppe von Wissenschaftlern um die ehemaligen Gesundheitsweisen Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske hält die Sieben-Tage-Inzidenzen der Neuinfektionen und der Hospitalisierungen ebenfalls für „störungsanfällig“. Eine Vergleichbarkeit „kleinräumiger Regionen“ sei darüber nicht gegeben, heißt es im 8. Positionspapier der Gruppe zur Corona-Politik. Derzeit komme es zu einer „unentwirrbaren Verstrickung von Resten der Lockdown-Politik“ mit dem „Regelungsbedarf resultierend aus den Konflikten um die Impfung“.
Stattdessen sollten „multidimensionale Indikatoren-Sets“ zur Steuerung der Pandemiemaßnahmen herangezogen werden. Sie könnten Stratifizierungen nach Alter und Impfstatus, Erhebungen zu Komorbiditäten, sozioökonomischen Faktoren und Positivraten nebst Testfrequenzen enthalten. Zudem sollten eine ebenfalls nach Komorbidität und Positivitätsrate spezifizierte Hospitalisierung, Intensivbelegung und Beatmungspflichtigkeit berücksichtigt werden.
Eine solche Ausrichtung sei in der Politik allerdings derzeit nicht erkennbar. Stattdessen sei der etablierte und eingespielte korporatistische Steuerungsmodus des Gesundheitswesens einer „hierarchischen ad-hoc-Steuerung“ gewichen. Gesundheitsminister Spahn wirft die Gruppe, zu der auch der Chef des BKK-Dachverbands Franz Knieps und die ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Hedwig Francois-Kettner gehören, „politischen Aktionismus“ vor, seinem Ministerium „mangelnde operative Kompetenz“.