IPPNW-Symposium
Fukushima und Krebs: Handlungsmaxime Intransparenz?
Atomkritische Ärzte warnen: Ein stets modifiziertes Design sowie Drop-outs aus den Reihenuntersuchungen junger Menschen in Fukushima auf Schilddrüsenkrebs stellen ein verzerrtes Bild der Realität dar.
Veröffentlicht:Berlin/Fukushima. Japans Zentralregierung in Tokio wie auch die Präfekturregierung in Fukushima versuchen im Vorfeld der nach wie vor für diesen Sommer geplanten, verschobenen Olympiade offenbar alles Erdenkliche, um die tatsächlichen Folgen für Mensch und Umwelt im Zuge der Havarie des Meilers Fukushima Daiichi vom 11. März 2011 kleinzureden. Diesen Eindruck vermittelten am Samstag zumindest die Referenten des Web-Symposiums „10 Years Living with Fukushima“, das die deutsche Sektion der Medizinervereinigung Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) in Berlin abgehalten hat.
So mahnt zum Beispiel der an der Charité praktizierende Pädiater und Co-Vorsitzende von IPPNW Deutschland, Dr. Alex Rosen, einen wissenschaftlich stringenteren Umgang beim Konzipieren und Realisieren der von der Präfekturregierung initiierten Reihenuntersuchung auf Schilddrüsenkrebs an, die die Fukushima Medical University (FMU) kurz nach der Dreifachkatastrophe aufgenommen hat.
Drastischer Schwund bei Teilnehmerzahl
Eine der meistgefürchteten Spätfolgen radioaktiver Exposition sei die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA, so Rosen. Schilddrüsenkrebs bei Kindern sei zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form der strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen seien die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs relativ kurz, nur wenige Jahre. Zum anderen sei Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, sodass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen sei. Entsprechend groß sei 2011 auch der Druck auf die japanischen Behörden gewesen, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.
Seit knapp zehn Jahren untersucht die FMU in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Atomunglücks in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Laut Rosen habe es sich dabei anfangs um rund 368.000 Einwohner gehandelt, mittlerweile seien es nur noch knapp 218.000.
Beharren auf der These des Screening-Effektes
Seit 2011 wurden vier Untersuchungsreihen durchgeführt, die fünfte läuft seit 2018. In der Erstuntersuchung in Fukushima habe man 101 bestätigte Krebsfälle gefunden, die so aggressiv gewesen seien, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl wurde von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt, der allerdings unter Wissenschaftlern weltweit schnell angezweifelt worden ist. Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten sei, so die Argumentationslinie der FMU.
In den darauffolgenden Screenings habe man, so Rosen, weitere 97 Krebsfälle entdeckt. „Bei diesen Fällen kann ein Screening-Effekt ausgeschlossen werden, denn all diese Kinder waren ja im Vorfeld schon voruntersucht und für krebsfrei befunden worden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screening-Untersuchungen entwickelt haben“, so die Sichtweise des IPPNW.
Die atomkritischen Ärzte wittern eine Art Verschwörung von offizieller Seite, um im Vorfeld der immer noch für Sommer geplanten, nachzuholenden Sommerolympiade der Weltöffentlichkeit ein freundliches und nicht gesundheitsschädigendes Japan-Bild zu vermitteln. Schließlich soll der Fackellauf durch die ehemalige Evakuierungszone führen und Teile der Spiele in Fukushima ausgetragen werden. Folgerichtig sei, so Rosen, die Erklärung der FMU, die hohen Krebszahlen seien dem Screening-Effekt zuzuschreiben, nicht die einzige Maßnahme, die allgemein als Mittel zur Reduzierung der offiziellen Zahl diagnostizierter Krebsfälle gewertet werde. So würden beispielsweise auch Jugendliche, die 25 Jahre alt werden, aus der offiziellen Hauptstudie ausgeschlossen und in eine neu erschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen.
Die Teilnahmequote in dieser Studie betrage gerade einmal acht Prozent. Hier seien bislang vier Krebsfälle diagnostiziert worden.
Dazu käme, dass die Reihenfolge der Screenings von Untersuchung zu Untersuchung geändert werde. Rosen: „Erst screent man von Ost nach West in der Präfektur und dann von West nach Ost.“ So würden sich schon wieder nicht vergleichbare Zeitintervalle ergeben, um die Ergebnisse schwerer zu deuten. Zu allem Überdruss schicke die Präfekturregierung auch noch Menschen in die Schulen, die die Kinder nachdrücklich über ihr Recht des Nichtwissens aufklärten – und somit versuchten, die Teilnehmerzahl zu drücken. „Ergeben sich bestimmte Verdachtsfälle im Rahmen des Screenings, werden die Teilnehmer zur weiteren Abklärung in die FMU-Klinik verwiesen und fallen damit aus der Studie raus“, ergänzt Rosen.
Keine Bereitschaft zum Dialog
Dies bestätigte auch Professor Toshihide Tsuda, Arzt und Epidemiologe an der westjapanischen Okayama University, der eine der sechs Gruppen geleitet hat, die unabhängig voneinander die Daten der zweiten Erhebungswelle von 2014 bis 2016 auswerteten. Zwei der Analysen wiesen laut Tsuda keine Auswirkungen der erhöhten Strahlung infolge der Atomhavarie auf das Krebsgeschehen aus – beide seien von FMU-Wissenschaftlern vorgenommen worden. Die restlichen vier, darunter Tsudas Gruppe, wiesen jedoch auf kausale Zusammenhänge hin. Im Rücken hatten sie die Einschätzung der WHO vom Februar 2013, die einen Anstieg unter anderem von Schilddrüsenkrebs, aber auch Leukämien und Brustkrebs, in Fukushima infolge der erhöhten Strahlenexposition prognostizierte.
Die International Society for Environmental Epidemiology (ISEE) wurde auf Tsudas bei Springer publizierte Arbeit aufmerksam und forderte 2016 in einem Brief an die Zentralregierung in Tokio sowie die Präfekturregierung in Fukushima wesentliche Modifikationen beim Studiendesign ein, um epidemiologische Ansprüche befriedigen zu können. „Bisher hat niemand von offizieller Seite auf den Brief reagiert“, verdeutlichte Tsuda am Samstag.