Kassenfinanzen

GKV könnte in Milliarden-Defizit rauschen – schon ohne Corona

Die Kassen verbuchen tiefrote Finanzergebnisse im ersten Quartal. Dabei sind die Mehrkosten der Pandemie noch gar nicht eingepreist. Die Welle von Spahn-Gesetzen treibt die Ausgaben.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Die Defizite der Krankenkassen sind im ersten Quartal 2020 auf mutmaßlich 1,3 Milliarden Euro gestiegen. Motor der Entwicklung ist vor allem die hohe Zahl an ausgabenintensiven Reformgesetzen.

Die Defizite der Krankenkassen sind im ersten Quartal 2020 auf mutmaßlich 1,3 Milliarden Euro gestiegen. Motor der Entwicklung ist vor allem die hohe Zahl an ausgabenintensiven Reformgesetzen.

© Comugnero Silvana / stock.adobe.com

Berlin. Die gesetzlichen Krankenkassen haben im ersten Quartal Defizite von fast 1,3 Milliarden Euro eingefahren. Das geht aus Angaben der Kassenverbände hervor, die der „Ärzte Zeitung“ vorab vorliegen. Damit setzt sich die Negativ-Entwicklung des Vorjahres fort. 2019 hatten alle Kassen mit einem Minus abgeschlossen, das sich GKV-weit auf 1,5 Milliarden Euro addierte.

Im ersten Quartal gerät auch das AOK-System, das in den vergangenen Quartalen in der Regel die besten Finanzergebnisse verzeichnet hatte, unter die Räder und kann sich nicht mehr gegen den Trend stemmen. Die AOK-Gemeinschaft schließt die ersten drei Monate mit einem Minus von rund 435 Millionen Euro ab.

Spahn‘sche Ausgabenwelle rollt

Dabei sei dieses Ergebnis mit Ausnahme einiger Vorzieheffekte bei Arzneimitteln noch nicht durch die Corona-Pandemie belastet. „Was aber weiter durchschlägt, sind die Finanzwirkungen der Spahn‘schen Gesetzgebung aus dem Vorjahr“, sagt Martin Litsch, Vorsitzender des AOK-Bundesverbands, der „Ärzte Zeitung“. Der Unterschied zum Vorjahresquartal ist gravierend: Damals stand nach dem ersten Quartal noch ein Plus von 89 Millionen Euro in der Bilanz.

Die Ersatzkassen waren bereits zum Zeitpunkt des ersten Quartals 2019 in den Miesen und verzeichneten Ausgabenüberschüsse von 150 Millionen Euro. Nun hat sich das Defizit auf 542 Millionen Euro vergrößert. Zum Ergebnis beigetragen hat auch der politisch gewollte Abbau von Finanzrücklagen bei einzelnen Kassen sowie die Gründung eines Vorsorgefonds bei der Techniker Kasse, heißt es.

Schere geht weiter auf

Auch Betriebs- und Innungskassen sind mit roten Zahlen ins Jahr 2020 gestartet. Die Betriebskassen verzeichnen ein Defizit von etwa 200 Millionen Euro (Vorjahresquartal: minus 59 Millionen Euro), bei den sechs Innungskassen beläuft sich der negative Saldo auf etwa 98,5 Millionen Euro (Vorjahresquartal: minus 16 Millionen Euro).

Dass die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben weiter aufgeht, belegen Daten des Ersatzkassenverbands. Die Leistungsausgaben wuchsen dort im ersten Quartal je Versicherten um fünf Prozent. Dagegen stiegen die Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds nur um 4,2 Prozent.

Auch in der AOK-Gemeinschaft, die bislang stets unterdurchschnittliche Steigerungsraten bei den Leistungsausgaben verzeichnete, dreht sich der Wind. Sie klettern im ersten Quartal erstmals wieder über die Fünf-Prozent-Marke – GKV-weit lag der Veränderungswert im Vorjahresquartal bei 3,9 Prozent.

Elf Prozent plus bei Arzneimitteln

Bei den Ersatzkassen stellt sich die Entwicklung noch dynamischer dar. Dort lassen sich im ersten Quartal bereits erste Kostenwirkungen der Pandemie bei den Arzneiausgaben ablesen, berichtet der vdek: Um elf Prozent stiegen die Ausgaben in diesem Leistungsbereich, ein Jahr zuvor waren es noch vier Prozent.

Wie berichtet haben sich chronisch kranke Versicherte im März offenbar im Vorfeld der Pandemie mit einem Vorrat an Medikamenten eingedeckt. Weil viele Kassen-Mitglieder aus Vorsicht oder wegen Erkältungssymptomen zu Hause geblieben sind, verzeichneten die Ersatzkassen einen Anstieg von 9,5 Prozent beim Krankengeld (Vorjahresquartal: 6,73 Prozent).

Der umgekehrte Corona-bedingte Trend lässt sich im stationären Sektor ablesen. Dort stiegen die Ausgaben im ersten Quartal nur um 1,8 Prozent, 3,1 Prozent waren es im Vorjahreszeitraum. Als Grund vermutet der vdek, dass ab Mitte März planbare Operationen in Krankenhäusern verschoben wurden.

Kaum prognostizierbare Entwicklung

Die AOK-Gemeinschaft geht wie andere Kassenverbände davon aus, dass das zweite Quartal von Sondereffekten durch die Corona-Pandemie geprägt sein wird. Prognostizierbar sei die Entwicklung kaum: „Es ist noch völlig unklar, wie nachhaltig die Verunsicherung der Bevölkerung bezüglich Arztbesuchen wirkt und wie schnell planbare Operationen nachgeholt werden können. Dauer und Dimension der Fallzahlenrückgänge sind kaum vorhersehbar“, sagt AOK-Bundesverband-Vorstand Litsch.

Bundesgesundheitsministerium und der GKV-Spitzenverband haben sich darauf geeinigt, dass im Spätsommer ein Kassensturz ansteht. Alle Beteiligten gehen inzwischen davon aus, dass der Bund zusätzliches Geld für den Gesundheitsfonds bereitstellen muss. „Deutschland braucht jetzt stabile Krankenkassenbeiträge“, so Litsch.

Unterdessen bestätigt ein Bericht der Techniker Kasse frühere Hinweise, dass sich GKV-Versicherte im März im Vorfeld des Lockdowns mit Medikamenten eingedeckt haben. So hätten in der zwölften Kalenderwoche zwischen dem 16. und 22. März die Ausgaben bei knapp 104 Millionen Euro gelegen, eine Steigerung um 18 Prozent im Vergleich zur Vorwoche und gut 30 Millionen Euro mehr als in der gleichen Kalenderwoche 2019.

Dabei stützen die TK-Daten auch Berichte, wonach in dieser Woche besonders viele N3-Großpackungen verordnet wurden. Für den gesamten März registriere die Kasse ein Plus von über 26 Prozent je Versicherten bei den Arzneimittelausgaben. Im April seien die Verordnungen wieder deutlich zurückgegangen.

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