Medizinstudium
Gendermedizin soll raus aus dem Nischendasein
Geschlechtssensibilität in der Medizin ist wichtig, steht aber oft noch nicht im Mittelpunkt. Ein Blick auf medizinische Fakultäten, männliche Mäuse und Lungenkrebs.
Veröffentlicht:Neu-Isenburg. Was hat Emanzipation mit Lungenkrebs zu tun? Mit Fragen wie diesen rund um geschlechtsbedingte Unterschiede beschäftigt sich die Gendermedizin. „Es geht bei der Gendermedizin, oder wie wir auch sagen geschlechtssensiblen Medizin, um beide Geschlechter“, betont die Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Professorin Gabriele Kaczmarczyk, im Podcast der „Ärzte Zeitung“. Doch welchen Stellenwert nimmt dieses Fachgebiet bisher im Medizinstudium ein und welche Chancen bietet es ?
Geschlechtersensible Lehre ist nicht flächendeckend in das Medizinstudium und die Ausbildung in der Krankenpflege und Physiotherapie eingebunden, belegt eine Gruppe von Forscherinnen des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB) und der Berliner Charitè mit einem Gutachten (Deutscher Ärztinnenbund e.V. 2021; online 11. Januar).
Gendermedizin im Curriculum
„Soweit es die Humanmedizin betrifft, ist die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen an den Universitäten leider absolut unzureichend“, sagt Gabriele Kaczmarczyk als Mitautorin des Projekts.
Die Wissenschaftlerinnen befragten für den Bereich Humanmedizin unter anderem die Studiendekanate von 31 Ausbildungsstätten sowie Ansprechpartnerinnen für die Fächer Kardiologie und klinische Pharmakologie.
39 Prozent der befragten Dekanate stuften die Relevanz geschlechtsspezifischer Inhalte als wichtig, 54 Prozent als eher wichtig ein. In etwa 70 Prozent der medizinischen Fakultäten in Deutschland gibt es allerdings nur einzelne Lehrveranstaltungen zu Geschlechteraspekten.
Nur 29 Prozent der Befragten gaben an, dass es an ihrer Fakultät ein verantwortliches Gremium gebe, das die Integration von Geschlechteraspekten in das Curriculum sichere. „Unsere Forschungsarbeit kommt zu dem Ergebnis, dass im Bereich Gendermedizin neue Professuren geschaffen werden sollten“, so Kaczmarczyk. Im Unterschied zu Studienergebnissen aus dem Jahr 2016 werden aktuell geschlechtsspezifische Inhalte in der Kardiologie und klinischen Pharmakologie allerdings in fast allen befragten Fakultäten gelehrt.
„Sex“ und „Gender“
Auf den Zusammenhang von Geschlecht und Gesundheit gehen die Verfasserinnen eines Positionspapiers des Netzwerks Women in Global Health ein („Frauen in Gesundheitsberufen“; WGH, online 5. Oktober). Forschungsergebnisse nationaler und internationaler Gesundheitssurveys sowie der Geschlechterforschung in der Medizin zeigten, dass Geschlechterunterschiede unter Anderem in der Prävention, Pathogenese, Manifestation, Diagnose und Therapie von Erkrankungen bestehen würden, berichten sie.
Diese Geschlechterunterschiede ließen sich sowohl auf Unterschiede im biologischen Geschlecht („Sex“) als auch im soziokulturellen Geschlecht („Gender“) zurückführen, die sich gegenseitig bedingten, erklären die Autorinnen. Dabei umfasse das biologische Geschlecht die Gene und Hormone und das soziokulturelle Geschlecht das Gesundheitsverhalten und den Lebensstil. „Für eine bessere Qualität der medizinischen Versorgung ist somit die Beachtung von Geschlechterunterschieden bei der Prävention, Krankheitsentstehung, Diagnose und Therapie notwendig“, betonen die Verfasserinnen .
Frauen in Studien unterrepräsentiert
Dabei sei hervorzuheben, dass Frauen in klinischen Studien zu beispielsweise Medikamenten oft unterrepräsentiert seien, so dass es eine geringere Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit bei Frauen gebe.
In Deutschland würden noch immer Tierexperimente hauptsächlich an männlichen Tieren durchgeführt, da sie oft besser in das experimentelle Protokoll passten, erläutert Gabriele Kaczmarczyk im Podcast. „Es ist Unsinn, eine Erkrankung vorwiegend an männlichen Mäusen zu untersuchen, die in der Klinik häufig bei Frauen auftritt“, sagt sie.
„ÄrzteTag“-Podcast
Gendermedizin gehört fest ins Medizinstudium integriert!
Emanzipation und Lungenkrebs
Dass geschlechtersensible Gesundheitsforschung schrittweise an Bedeutung gewinnt, zeigt der erste Frauengesundheitsbericht des Robert Koch-Instituts (RKI), der im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt und im Dezember 2020 veröffentlicht wurde (RKI 2020; online 9. Dezember).
Entscheidend geprägt werde das Gesundheitsverhalten durch soziokulturelle Bedingungen, Geschlechterrollen und entsprechende Rollenerwartungen, erklären die Verfasserinnen des Berichts. So entstünden beispielsweise Geschlechterunterschiede im Tabakkonsum, weil das Rauchen aufgrund von gesellschaftlichen Normen bei Frauen lange Zeit tabuisiert war. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es zunehmend akzeptiert.
Weil Frauen allerdings stärker als Männer für tabakassoziierte Folgen gefährdet seien, würden heutzutage vermehrt Lungenkrebsfälle bei Frauen sichtbar. „Eine geschlechtersensible Berichterstattung trägt dazu bei, wissenschaftlich fundierte Informationen als Grundlage für politisches Handeln zu liefern“, so RKI-Präsident Professor Lothar Wieler.
Die Relevanz des Themas wird immer deutlicher, und so widmet sich auch der diesjährige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Form von mehreren Vorträgen dem Thema Geschlechterunterschiede.
Wichtig zu nennen ist, dass bisher auch Forschungslücken und Versorgungsungleichheiten in Bezug auf Menschen bestehen, die durch ihr biologisches Geschlecht, ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung von dem heteronormativen Gesellschaftsmodell mit seiner „klassischen“ Einteilung in Männer und Frauen abweichen, wie ein RKI-Bericht aufzeigt („Journal of Health Monitoring“, RKI; 2020; online18. März)