DGPPN-Präsidentin im Interview
"Hausärzte - oft erste Ansprechpartner"
Vor genau 40 Jahren hat die Psychiatrie-Enquete ihren Bericht zur Versorgungslage in Deutschland veröffentlicht. Zum Start des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zieht DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth im Interview mit der „Ärzte Zeitung“ ein Fazit, was sich seither getan hat.
Veröffentlicht:Dr. Iris Hauth
Nach dem Studium der Medizin (1974 bis 1984) in Bochum und Lübeck und der Facharztweiterbildung war Dr. Iris Hauth unter anderem in der Abteilung für Klinische Psychiatrie der Universität Bochum sowie als Abteilungsärztin am Alexianer-Krankenhaus in Neuss tätig..
Seit 2008 ist sie Geschäftsführerin des Alexianer St. Joseph Krankenhaus Berlin-Weißensee. Bereits seit 1998 war sie hier als Chefärztin und ärztliche Direktorin des Zentrums für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik tätig.
Im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist Dr. Iris Hauth seit 2004 Mitglied, seit 2015 ist sie Präsidentin.
Ärzte Zeitung: Heute vor 40 Jahren haben die Autoren des Enquete-Berichts Psychiatrie ihre Arbeit dem Bundestagspräsidenten übergeben. Warum war eine Neuorientierung in der Psychiatrie nötig?
Dr. Iris Hauth: Nach den Gräueln im Dritten Reich mit Euthanasie und Menschenexperimenten lag die Psychiatrie völlig am Boden. Und dort blieb sie bis Ende der 60er Jahre.
Die Großanstalten außerhalb der Städte mit bis zu 4000 Betten und wenig Behandlungsmöglichkeiten sowie wenig Personal bestanden fort. Die ersten Medikamente sind erst in den 60er Jahren entwickelt worden, Psychotherapie für psychisch Erkrankte stieß noch später dazu. Und insofern bedeutete diese Art der Unterbringung Ausgrenzung. Die Aufenthaltsdauer bemaß sich in Monaten bis Jahren.
Diese katastrophale Situation aktivierte eine große Gruppe von Psychiatern, die dann auch Gehör bei der Politik fanden. So wurde eine Enquete gegründet, die einen ausführlichen Bericht über die Lage der Psychiatrie erstellte. Forderungen waren Enthospitalisierung, Reduktion der Betten und der Aufbau von ambulanten und stationären Einrichtungen.
Im Sinne der Anti-Stigma-Bewegung war es wichtig, deutlich zu machen, dass psychisch erkrankte Menschen gleichgestellt werden mit körperlich Erkrankten und somit vor Ort und wohnortnah behandelt werden müssen.
Wie viel davon ist bis heute umgesetzt worden?
Hauth: Die Enquete ist unglaublich wichtig gewesen. Eine so umwälzende Reform wie nach dem Enquete-Bericht hat es in anderen Bereichen der Medizin weder in Deutschland noch in Europa kaum wieder gegeben. Wir haben ein differenziertes ambulantes, stationäres und auf Teilhabe ausgerichtetes System aufgebaut. Aktuell ist es dringend notwendig, die Versorgung im ambulanten Bereich zu verbessern und vor allem die Vernetzung zwischen den Sektoren.
Wie hat sich die Infrastruktur konkret entwickelt?
Hauth: Wir haben heute deutschlandweit etwa 220 Fachkliniken. Solche Kliniken haben nur noch 200 bis 400 Betten. Es gibt zudem rund 220 Abteilungen an somatischen Krankenhäusern. Die Forderung nach Dezentralisierung ist also gut umgesetzt. Ebenso die nach der Einrichtung von Tageskliniken und Institutsambulanzen.
1972 gab es übrigens noch 120.000 psychiatrische Betten, jetzt haben wir 55.000 Betten. Die Liegezeiten haben sich von im Durchschnitt zwischen 100 und 200 Tagen auf 22 Tage reduziert.Für die ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung gibt es neben Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie rund 20.000 ärztliche und psychologische Psychotherapeuten.
Der Bericht damals hat ganz konkrete Mängel aufgeführt. Einer davon war die Fehlallokation psychiatrischer Patienten in somatischen Abteilungen...
Hauth: Die diagnostizierten psychischen akuten Erkrankungen werden heute in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie behandelt. Allerdings gibt es auch heute noch Behandlungen in internistischen oder anderen somatischen Abteilungen, zumeist als Zweitdiagnose. Patienten mit psychischen Erkrankungen in somatischen Abteilungen werden heute glücklicherweise durch einen Konsil- und Liaisondienst mitversorgt. Dazu kommen Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie aus niedergelassenen Praxen oder Fachkliniken in die somatischen Abteilungen.
Ist die Forderung von damals umgesetzt, psychisch und somatisch kranke Menschen gleich zu behandeln?
Hauth: Im Hinblick auf die Strukturen kann man sagen, dass die psychischen Erkrankungen heute weniger stigmatisiert sind als damals und ein differenziertes Behandlungsangebot vorhanden ist. Sicher ist es immer noch so, dass psychische Erkrankungen weiterhin mit Vorurteilen behaftet sind. Es ist einfacher zu sagen: "Ich habe Rückenschmerzen" als "Ich habe Depressionen, ich bin suchtkrank, ich leide an Schizophrenie". Da ist weiterhin Informations- und Aufklärungsbedarf da, um die Vorurteile zu verringern und eine Gleichbehandlung zu erreichen.
Trifft der Begriff Stigmatisierung noch zu?
Hauth: Ja, das würde ich schon sagen. Es gibt einen Anteil von Menschen, die nicht mit einem psychisch Kranken zusammenarbeiten oder ihn als Nachbarn haben wollen.
Wie steht es um die Gleichstellung der Behandler von psychisch und somatisch Leidenden?
Hauth: Die Darstellung in den Medien, aber auch der Stand innerhalb der anderen medizinischen Fächer ist immer noch von Vorurteilen geprägt. Neben einem gestandenen Chirurgen hat ein Psychiater, der nur behandelt durch reden, keinen gleich hohen Status.
Vor einem Monat haben wir eine Umfrage unter unseren 8300 Mitgliedern gemacht, 12 Prozent haben geantwortet. Ein Fragenblock war: Wie ist die Stellung des Psychiaters in der Gesellschaft, wie in den medizinischen Fakultäten? Die Mehrheit ist davon überzeugt, dass die Anerkennung noch verbesserungswürdig sei und das öffentliche Bild nicht der Realität der Psychiater entspreche.
Dass Psychiater ähnlich wie ihre Patienten nicht so wertgeschätzt werden, ist ein weltweites Phänomen. Darauf verweist auch die WHO.
Im Enquete-Bericht wird schon vor 40 Jahren auf einen Mangel an Prävention gegen die seelischen Belastungen der Arbeitswelt aufmerksam gemacht.
40 Jahre Psychiatrie-Enquete
Der Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – so die offizielle Bezeichnung der Psychiatrie-Enquete – wurde im September 1975 fertiggestellt.
Der Umfang bemisst sich auf 430 DIN-A4-Seiten.
Im Auftrag des Bundestages wurde der Bericht von einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Mitarbeitern aller Bereiche der Psychiatrie erstellt.
Der Bericht im Wortlaut.
Hauth: In den letzten Jahren hat es da positive Entwicklungen gegeben, auch nach dem Stressreport von Frau von der Leyen als Arbeitsministerin. Im Moment entsteht im Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu diesem Thema eine neue Studie, die im Dezember veröffentlicht werden soll.
Bei den Betriebsärzten gibt es jetzt bei den üblichen Untersuchungen einen Bereich, der die psychosozialen Risikofaktoren am Arbeitsplatz erfragt.
Die Schulung der Betriebsärzte und die Verlinkung zu den Psychiatern ist noch ausbaufähig.Das ist ein Punkt der Enquete, der erst in den letzten Jahren wieder in den Fokus gerückt ist und weiter entwickelt werden muss.
Wie steht es um die Wiedereingliederung psychisch Kranker in die Arbeitswelt?
Hauth: Eher schlecht. Die Forderung, Menschen schrittweise wieder zurück in die Arbeit zu bringen, ist noch nicht wirklich umgesetzt. Eine Expertise, die die DGPPN im letzten Jahr erstellt hat, besagt, dass 50 Prozent der schwer psychisch Kranken überhaupt nicht in Beschäftigung sind und nur zehn Prozent im ersten Arbeitsmarkt.
Viele chronisch psychisch erkrankte Menschen arbeiten in Werkstätten. Die dürfen aber nicht automatisch die Endstation sein.Hier ist Handlungsbedarf im Sinne von Teilhabe am Arbeitsleben als sinnstiftender Faktor, der Unabhängigkeit und Kommunikation gibt.
Hausärzte seien nicht ausreichend befähigt, die Versorgung psychisch Kranker wahrzunehmen und zu steuern, hieß es sinngemäß im Enquete-Bericht. Sind Allgemeinmediziner heute dazu fähig?
Hauth: Hausärzte sind oft die ersten Ansprechpartner. Ein großer Teil der psychisch Kranken wird auch nur bei den Hausärzten behandelt. Von den 4,8 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Depression werden 60 Prozent nur bei Hausärzten behandelt.
Durch die gemeinsame Erstellung von Leitlinien und psychosomatische Grundkenntnisse hat sich bei den Hausärzten viel Kompetenz entwickelt. Schwierig aus der Sicht des Psychiaters ist oft noch die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Fachärzten, also die Schnittstelle.
Diese kann man noch besser bearbeiten. Wir haben auf dem Kongress ab Freitag erstmals zwei ganze Tage lang ein Programm, das sich an die Hausärzte wendet. Wir machen das in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, um besser in Kontakt zu kommen und die Kooperation zu stärken.
Der Enquete-Bericht verneinte ja noch, dass Hausärzte selbst psychotherapeutisch tätig werden könnten...
Hauth: Interventionen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung können Hausärzte sehr wohl vornehmen.
Auch die Behandlungen mit Psychopharmaka wurde den Hausärzten nicht zugetraut...
Hauth: Auch das geht heute recht gut. Wichtig ist jedoch, spätestens nach Feststellen mangelnder Remission, dass die Hausärzte die Patienten an Fachärzte überweisen.
Die ärztlichen und die psychologischen Psychotherapeuten üben neuerdings den Schulterschluss. Was ist passiert?
Hauth: Die Menge der psychisch Erkrankten ist in den vergangenen zehn Jahren ausweislich von Untersuchungen des Robert Koch-Instituts nicht gestiegen. Aber der Druck auf die Versorgungssektoren nimmt zu, auch der finanzielle.
Insofern sind wir gut beraten, mit allen, die an der Versorgung beteiligt sind, Kooperation zu fördern. Das ist wieder ein Link zur Psychiatrie-Enquete, die schon die Kooperation anmahnte.
Originalton: Ein Hauptmangel (...) ist das Fehlen einer wirksamen Koordination im System der beratenden, betreuenden und therapeutischen Angebote. Diese Forderung der Enquete ist nicht umgesetzt, sodass wir mit Hochdruck daran arbeiten müssen, eine verbindliche und strukturierte Kooperation zu etablieren.
Welche Rolle kann dabei die Integrierte Versorgung spielen?
Hauth: Die Integrierte Versorgung nach §140 SGB V hat nicht die Ergebnisse gebracht, die man sich gewünscht hat. Es gab nur wenige Projekte in der psychiatrischen Versorgung. Die Hintergründe sind sicher unterschiedlich.
Auch die Kassen waren nicht so an Verträgen interessiert.Wenn wir den Behandlungsbedarf psychischer Erkrankungen in Deutschland bewältigen wollen, ohne dass die Kosten völlig entgleisen, ist es aber notwendig, strukturiert zusammenzuarbeiten.
Wesentlich ist es, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen zeitnah ein Krisengespräch und Diagnostik bekommen und gemeinsam mit den Patienten entschieden wird, welche Behandlung hilfreich sein kann. Nicht jeder braucht eine große Richtlinientherapie. Manchen Patienten hilft eine kurze Krisenintervention beim Hausarzt oder beim Psychiater.
Eine Voraussetzung dafür ist die Ausbildung. Es gibt einen Streit über die Direktausbildung. Wie ist da der Stand?
Hauth: Im Moment liegt der Vorgang beim Gesundheitsministerium. Das BMG ist, so wie ich das verstanden habe, entschlossen, die Direktausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten umzusetzen. Das ist wohl bedingt durch den Bologna-Prozess, also die Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse.
Das BMG will offensichtlich diesen Heilberuf ein Stück weit der ärztlichen Ausbildung angleichen. Uns ist wichtig, dass diese Direktausbildung genügend Praxisbezug hat, damit die Studenten das ganze Spektrum von Patienten zu sehen bekommen und nach dem Staatsexamen eine mehrjährige Weiterbildung, auch in Kliniken, vorgegeben wird.Bisher sind viele Probleme bei der geplanten Direktausbildung nicht gelöst.
In Kliniken gibt es für psychologische Assistenten keine Stellen. Im Moment gibt es nur Stellen für die Weiterbildung zum Facharzt, aber nicht für diesen Bereich. Da sehe ich noch keine Lösung, wie das on top gehen soll. Das könnte für den Ausbildungsgang auch einen Flaschenhals bedeuten.
Es gibt einen weiteren Prozess in der Schwebe, die Psychotherapie-Richtlinie. Was können Sie in deren Entwicklung einbringen?
Hauth: Die Idee der Politik, die dahinter steckt, ist die Verkürzung der Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr. Das sollen Akutsprechstunden und Gruppentherapie leisten.Was wir uns wünschen würden, ist eine Flexibilisierung. Nicht jeder Patient braucht eine Therapie von 50, 80 oder mehr Stunden.
Es gibt gute Evidenzen bei den störungsspezifischen Therapien. Bei der dialektisch behaviouralen zur Behandlung von Borderline-Störungen oder auch bei Depressionen können schon zehn, 20 Stunden zum Abklingen der Symptome führen. Wir wollen eine weitgehende Flexibilisierung, um auch kürzere Therapien durchzuführen.