Neue psychoaktive Substanzen
Jede Woche zwei neue Drogen in der EU
Um sich zu berauschen, werden immer wieder neue Substanzen benutzt. Die Drogentypen haben rasant zugenommen. Das ist auch ein Analyse-Problem.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Jede Woche werden in der EU im Schnitt zwei neue Rauschmittel entdeckt, hat die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) jetzt am Dienstag in ihrem Jahresbericht mitgeteilt.
Das setzt den bisherigen Trend fort: Über 100 neue psychoaktive Substanzen hatte die Europäische Institution auch im Jahre 2014 identifiziert - der vorläufige Höhepunkt einer seit Jahren begonnenen Entwicklung: 2008 waren es gerade einmal ein Dutzend neue Rauschmittel.
In der Szene ist von "Kräutermischungen", "Badesalz" oder "Legal Highs" die Rede. Das soll Harmlosigkeit vermitteln, einen angeblich legalen Ausflug ins "Land der Träume". In Wirklichkeit sind die Effekte dieser Stoffe, deren Inhalte freilich nicht deklariert sind, unvorhersehbar. "Die Rauschverläufe weisen öfters klinisch kritische Situationen bis hin zu tödlichen Ausgängen auf", berichtet Professor Matthias Graw, Rechtsmediziner an der Ludwig-Maximilians-Universität München (pädiatrie hautnah 2015;27:16-18).
Über 130 synthetische Cannabinoide
Unter neuen psychoaktiven Substanzen (NPS) werden zum Beispiel synthetisch hergestellte Modifikationen bekannter Drogen (Designerdrogen) verstanden. So sind bereits mehr als 130 synthetische Cannabinoide entdeckt worden. Deren Rezeptoraffinität ist vielfach stärker als die von Tretrahydrocannabinol (THC).
Weiterhin gehören dazu synthetische oder pflanzliche Substanzen ("Legal Highs"), die teilweise (noch) nicht im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) gelistet sind, etwa synthetische Cathinone, sowie "Research Chemicals", oft chemische Reinsubstanzen, die typischerweise mit dem Warnhinweis "Not for human consumption" versehen sind und unter ihrem tatsächlichen Namen vertrieben werden.
Die Prävalenz des Konsums von NPS in Europa sei aus methodischen Gründen schwer zu ermitteln, hieß es bereits im Europäischen Drogenbericht 2015.
Im Flash Eurobarometer, einer Telefonumfrage unter 13.000 jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren aus allen EU-Mitgliedsstaaten, gaben acht Prozent der Befragten an, in ihrem Leben schon einem "Legal Highs" konsumiert zu haben, drei Prozent hatten in den letzten zwölf Monaten diese Drogen eingenommen.
Zunehmend werden NPS in Verbindung mit drogenbedingten Schädungen und Todesfällen gebracht. Ein bedeutender Marktplatz ist das Internet. Dort werden Legal Highs zum Beispiel als "Aquarienreiniger", "Blütenhilfe" oder "Wäscheerfrischer" angeboten.
Schwere Intoxikationen und Todesfälle werden seit etwa 2008 auch bei Gebrauch von Kräutermischungen berichtet, die unter dem Begriff "Spice" angeboten werden. In Wirklichkeit sind nicht Kräuter für die berauschende Wirkung zuständig, sondern synthetische Cannabinoide. "Die Kräuter dienen nur als Transportstoff und Tarnmittel", so Graw.
Harmloser Name, gefährliche Wirkung
Die Cannabinoide würden meist in flüssiger Lösung aufgespritzt. Der Münchner Rechtsmediziner berichtet vor allem von schweren Tachykardien und starkem Erbrechen sowie ausgeprägter Sedierung nach Einnahme von Spice-Produkten.
Des Weiteren können Panikattacken, starke Agitation, Halluzinationen und psychotische Zustände auftreten. Es sind Todesfälle durch Atemdepression, induzierte Krampfanfälle, Stürze aus großer Höhe oder Suizide im Drogenrausch bekannt geworden.
Unter "Badesalz" werden synthetische Stimulanzien zusammengefasst, die ähnlich wie Kokain oder Amphetamin wirken. Bekannte Cathinone sind MDPV (Methylendioxypyrovaleron), MDPPP (Methylendioxypyrrolidinpropiophenon) und 4-Methylmethcathinon (Mephedron).
Graw schildert den Fall eines 28-Jährigen, der kurz nach Einnahme von MDPV auf einen fremden Mann einschlug und einstach. Bei der Festnahme durch die Polizei wirkte er verwirrt. Auch in weiteren Fällen sind nach MDPV-induzierte Psychosen beschrieben worden.
Nach Graws Angaben weichen erfahrende Drogenkonsumenten in Kontrollprogrammen auf NPS aus. Wegen der Vielzahl relevanter Wirkstoffe sei der Nachweis oft nicht einfach, teilweise fehlten die Referenzsubstanzen oder die Metaboliten sind nicht beschrieben.
"Die in der Klinik verwendeten immunologischen Vortests erfassen diese Wirkstoffe und die meisten anderen NPS nicht!" In Webforen wird offen damit geworben, dass bestimmte Stoffe mit keinem Test identifiziert werden könnten. Standard in forensischen Labors sind massenspektrometrische Verfahren.
Es gibt Hinweise darauf, dass NPS in Zeiten, in denen die etablierten illegalen Drogen nur in geringer Menge und schlechter Qualität auf dem Markt verfügbar sind, als Ersatzstoffe fungieren. Mephedron ist vor einigen Jahren deshalb so beliebt geworden, weil Kokain und MDMA (Methylendioxy-N-Methalamphetamin, "Ecstasy") in schlechter Qualität angeboten wurden, heißt es im Europäischen Drogenbericht 2015. Das kann sich auch wieder ändern.
Deutsche Drogenszenen mi regionalen Besonderheiten
Insgesamt sind nach wie vor Alkohol und Nikotin die am weitesten verbreiteten psychoaktiven Substanzen in Deutschland, unter den illegalen Drogen rangiert Cannabis an erster Stelle, so der Bericht des deutschen REITOX-Knotenpunktes an die EBDD* aus 2015.
Der Drogenkonsum in Deutschland sei relativ stabil mit deutlichen regionalen Spezifika. So bestünden offenbar nur in Frankfurt am Main und Hamburg nennenswerte Crack-Szenen. In Bayern dagegen seien altbekannte Substanzen wie Methamphetamin ("Crystal Meth") oder "Liquid Ecstasy" (Gamma-Hydroxybuttersäure) sowie aus Pflastern ausgekochtes Fentanyl wieder im Kommen, so Graw.
Im letztjährigen EBDD-Bericht wird es als "besorgniserregend" bezeichnet, dass medizinische Opioide offenbar speziell für den illegalen Markt hergestellt werden. So seien dem EU-Frühwarnsystem seit 2005 insgesamt 14 neue synthetische Opioide gemeldet worden, darunter mehrerer starke, nicht kontrollierte Fentanyle.
Kombi auch mit Medikamenten
Darüber hinaus werden illegale Drogen wahrscheinlich oft in Kombination mit Alkohol, Tabak oder verschreibungspflichtigen Arzneien konsumiert, auch wenn dazu nur wenige aktuelle Informationen verfügbar sind.
Aus medizinischer Sicht ist es daher sinnlos, zwischen illegalen und legalen Drogen zu unterscheiden. Das machen folgende Zahlen deutlich: Schätzungsweise 4,6 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Diagnose für den Missbrauch von Schmerz-, Schlaf- oder Beruhigungsmitteln. Etwa 2,3 Millionen sind von mindestens einem dieser Medikamente abhängig.
EBDD - European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction
Hier gibt es auch den aktuellen Europäischen Drogenbericht 2016.