Versorgung vor Ort
Kommunen in einer Liga mit KV und Kassen
Kommunen zu gleichwertigen Playern in der Gesundheits- und Pflegepolitik machen: Diese Empfehlung der Altenberichts-Kommission käme, umgesetzt in reale Politik, einem institutionellen Erdbeben gleich.
Veröffentlicht:BERLIN. "Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Seniorenpolitik in den Kommunen"– das klingt sperrig und akademisch. Doch was die Kommission des Siebten Altenberichts unter der Leitung des Heidelberger Gerontologen Professor Andreas Kruse erarbeitet hat, taugt als Blaupause für Reformen der gesamten nächsten Legislaturperiode.
Auf über 300 Seiten beleuchtet die elfköpfige Expertengruppe erstmals umfassend die kommunale Daseinsvorsorge aus der Perspektive alter Menschen. Dabei werden viele lieb gewonnene Gewissheiten – nicht nur – in der Gesundheits- und Pflegepolitik in Frage gestellt.
Der Bericht "Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften" nimmt die oftmals randständige Bedeutung von Kommunen in den Blick. Bund und Länder legen durch gesetzliche Vorgaben die "Verteilungsmodi der Sozialversicherung fest" – Kommunen haben dabei eine Zuschauerrolle. Die Sozialversicherungen haben sich immer mehr zu "verlängerten Arm des Sozialstaates" entwickelt. Dabei seien Städten und Gemeinden "der unmittelbare Zugang zu den auf Pflege- und Gesundheitsdienstleistungen verwiesenen Bürgern (…) weitgehend verstellt".
"Seniorenpolitik" im Sozialdezernat
Auf kommunaler Ebene findet Politik für alte Menschen zumeist als "Seniorenpolitik" statt, die im Sozialdezernat ressortiert. Die Altenhilfe, wie sie im SGB XII geregelt ist, tauge aber nicht für eine "sektorübergreifende angelegte (...) und vernetzende örtliche Politik". Die Altenberichts-Kommission definiert "Zugehörigkeit und Teilhabe" als Leitbild für neue kommunale Strukturen der Mitverantwortung und Sorge. Eine kommunale Sozialpolitik ohne Leitbild "bleibt technisch und wird den sozialen und kulturellen Herausforderungen" nicht gerecht, heißt es warnend.
Entsprechend müssten die Lebenslagen und -bedingungen alter Menschen in allen relevanten Politikfeldern berücksichtigt werden: Bei der Zugänglichkeit zur gesundheitlichen Versorgung, bei der lokalen Wohnungspolitik, beim öffentlichen Nahverkehr oder bei funktionierenden Nachbarschaften, die durch Quartiersmanager flankiert werden.
Die Experten schlagen dafür ein "Leitgesetz" zur Stärkung einer Politik für alte Menschen vor, das miteinander verbundene Regelungen in verschiedenen Gesetzen zu einem Gesamtpaket bündelt. Dabei sollten insbesondere strukturschwache Regionen, die zudem besonders von Abwanderung und Überalterung betroffen sind, in den Blick genommen werden. Wettbewerblich angelegte Modellprogramm oder Förderprojekte von Stiftungen helfen nur den Kommunen mit ohnehin guter Performance, aber nicht den abgehängten Regionen, warnt die Kommission.
Die Vorschläge der Experten laufen auf eine "neu ausbalancierte Architektur der sozialen Unterstützungssysteme" hinaus, die in der Gesundheitspolitik Zuständigkeiten teilweise völlig zuschneidet: Gesundheitliche Versorgung müsse als "Koproduktion verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen" verstanden werden. "Silodenken" etwa aus der Sicht einzelner Sozialkassen hat in diesem Konzept keine Chance.
So spiele etwa im SGB V die Patientenorientierung kaum eine Rolle. Eine ausreichende, zweckmäßige und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Versorgung ist eben "nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den (…) Wünschen des Patienten".
Konkret schlägt die Kommission vor, die Mitwirkung der Kommunen an der Weiterentwicklung der haus- und fachärztlichen Entwicklung "gesetzlich zu sichern". Geprüft werden müsse, ob der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung den Kommunen übertragen werden kann.
Kommunen, so die Schlussfolgerung, müssten "Partner von KVen und Kassen werden". Das schließt kommunalen Einfluss auf die Bedarfsplanung mit ein. Daher müssten Kommunen Mitwirkungsbefugnisse in den Landesausschüssen der Ärzte und Krankenkassen bekommen. Der Gemeinsame Bundesausschuss wiederum sollte per Gesetz zu einer "gleichmäßigen Versorgungsdichte und Versorgungsqualität in ganz Deutschland" verpflichtet werden, heißt es.
Das bestehende Gesundheitssystem mit der haus- und fachärztlichen ambulanten Versorgung und Krankenhäusern andererseits bezeichnet die Kommission angesichts der demografischen Entwicklung als "nicht angemessen". Skeptisch zeigen sich die Experten dabei mit Blick auf die Steuerungs- und Lotsenfunktion von Hausärzte und fragen, "ob die Zuordnung der Koordinierungsfunktion zum Tätigkeitsprofil des Hausarztes nicht zu optimistisch ist".
Loblied auf Hausärzte
Die Fallsteuerung werde gegenwärtig von Ärzten "nicht in ausreichendem Maße" wahrgenommen und sollte besser auf Pflegefachkräfte oder Case-Manager übertragen werden. Auch wenn die Kommission für weniger arztzentrierte Versorgungsstrukturen plädieren, treibt sie doch die "Ausdünnung" der hausärztlichen Versorgung in vielen Regionen um. Damit gehe ein "zentrales Versorgungssegment verloren, das für eine individuumsbezogene, biografisch orientierte und ganzheitliche Diagnostik und Therapie unerlässlich ist."
Mehr noch: Dem Hausarzt wird gerade in seiner Funktion als Familienarzt "große Bedeutung für die Erhaltung und Stärkung bestehender wie auch auf die Etablierung neuer Sorgestrukturen" zuerkannt. Gerade deshalb müssten neue Organisationsformen gesundheitlicher Versorgung, bei dem einzelne, bisher dem Arzt vorbehaltene Leistungen, durch andere Gesundheitsberufe erbracht werden. Das Credo der Experten: Leistungen der Vernetzung, Koordination und Integration können nur in einem dezentralisierten Gesundheitswesen erbracht werden.
Die Bundesregierung geht auf das Sprengpotenzial der Vorschläge in ihrer Stellungnahme zum Bericht nicht ein. Sie will dem Aufruf zum Politikwechsel, der in der Expertise angelegt ist, die Spitze nehmen. Fast alle Thesen der Kommissionsmitglieder werden "begrüßt" oder "gewürdigt" – und zumeist als Teil der bisherigen Regierungspolitik vereinnahmt: "Die Bundesregierung hat bereits vielfältige Weichenstellungen vorgenommen." Angekündigt wird, die Regierung werde gemeinsam mit der Altenberichtskommission eine "breite Debatte über die Sorge und Mitverantwortung in der Kommune anstoßen" – wenigstens daran wird sie und die Nachfolgeregierung zu messen sein.