Public Health Kongress

Armut und Gesundheit: Lebenserwartung ist auch eine Frage des Geldbeutels

Die COVID-Pandemie habe die Unterschiede bei der Lebenserwartung zwischen ärmeren und reicheren Menschen in Deutschland weiter vergrößert. Das ist eine Erkenntnis beim Kongress Armut und Gesundheit.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Wer in ärmeren Stadtteilen wohnt, hat oft eine niedrigere Lebenserwartung als Menschen, die in wohlhabenden Zonen leben.

Wer in ärmeren Stadtteilen wohnt, hat oft eine niedrigere Lebenserwartung als Menschen, die in wohlhabenden Zonen leben.

© Sulamith Sallmann / Stock.adobe.com

Berlin. Die Lebenserwartung variiert deutlich zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern von wohlhabenden und sozial benachteiligten Wohnquartieren. Das belegen aktuelle Trendanalysen auf Grundlage bundesweiter Sterbedaten. Dr. Jens Hoebel vom Robert Koch-Institut hat sie am Montag zum Auftakt des Kongresses Armut und Gesundheit in Berlin vorgestellt.

Frauen in Wohnregionen mit der höchsten sozio-ökonomischen Benachteiligung sterben demnach etwa 4,3 Jahren Jahre früher als Bewohnerinnen der wohlhabendsten Wohnregionen. Bei Männern beträgt die sogenannte „Lebenserwartungslücke“ sogar 7,2 Jahre. Damit haben sich die Unterschiede, so Hoebel weiter, über den 20-Jahres-Zeitraum von 2003 bis 2022 deutlich vergrößert.

„Anfang der 2000er Jahre betrug die entsprechende Lebenserwartungslücke noch 2,6 Jahre bei Frauen und 5,7 Jahre bei Männern“, sagte der stellvertretende Leiter des Fachgebiets „Soziale Determinanten der Gesundheit“ in der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am RKI.

Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verstärkt

Die COVID-19-Pandemie habe diesen Trend noch verschärft und dazu geführt, dass die Lebenserwartung insbesondere der Bewohnerinnen und Bewohner von stark benachteiligten Gegenden weiter abgesunken sei. Hoebels Fazit: „Die Befunde weisen darauf hin, dass sich die gesundheitliche Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat.“

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Der Kongress Armut und Gesundheit in Berlin steht dieses Jahr unter dem Motto „Gesundheit fördern, heißt Demokratie fördern“. In mehr als 90 Veranstaltungen wird darüber diskutiert, wie sich der Sozialstatus in der Bevölkerung auf die Gesundheit auswirkt und wie sozial bedingte Ungleichheiten nachhaltig vermindert werden können.

Ausgerichtet wird der nun mehr seit 1995 stattfindende Kongress vom Verein Gesundheit Berlin-Brandenburg. Mitveranstalter sind neben der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) e. V. und der Berlin School of Public Health (BSPH) auch die Freie Universität Berlin und das Umweltbundesamt.

Mehr psychosomatische Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen

Zum Kongressauftakt wurden auch aktuelle Daten der Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) vorgestellt. Im Längsschnittvergleich zeigt sich, dass psychosomatische Beschwerden und soziale Ungleichheiten unter Kindern und Jugendlichen im Verlauf der letzten 30 Jahre weiter zugenommen haben.

Dr. Anne Kaman vom Zentrum für Psychosoziale Medizin an der Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) verwies darauf, dass etwa die Hälfte der Mädchen und ein Drittel der Jungen 2022 zusätzlich unter multiplen psychosomatischen Beschwerden wie etwa Niedergeschlagenheit, Gereiztheit und Einschlafprobleme gelitten haben.

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„Während 1994 nur neun Prozent der Jungen und 17 Prozent der Mädchen psychische Beschwerden angaben, waren es 2022 bereits 23 Prozent der Jungen und 56 Prozent der Mädchen“, betonte die Gesundheitswissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin der Forschungssektion Child Public Health der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE.

Besonders auffällig sei, dass Mädchen etwa doppelt so häufig betroffen seien wie Jungen. 2022 zeigte sich zudem, dass die Prävalenzen in allen Gruppen deutlich angestiegen sind und zwar „weitgehend unabhängig von der sozialen Herkunft“. In der Gruppe mit einem hohem familiären Wohlstand lag der Anstieg bei 17 Prozent und damit über jenen 12 Prozent, die bei Gruppen mit niedrigem familiären Wohlstand zu verzeichnen war. Kaman sieht weiterhin einen „dringenden Handlungsbedarf“ und forderte, insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schwächeren Familien stärker zu unterstützen.

Mehr Vernetzung zwischen Bildung und Gesundheit

Um einer weiteren Verschlechterung entgegen zu wirken, empfiehlt Professor Kevin Dadaczynski von der Hochschule Fulda, mehr in die schulische Bildung sowie in die Vernetzung von Schulen mit anderen Akteuren aus dem Bereich Gesundheit zu investieren.

Schließlich werden mit den HBSC-Daten auch schulische Merkmale wie Schulklima, schulische Belastung und schulisches Wohlbefinden erhoben. 40,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler fühlen sich demnach von den Lehrkräfte wenig unterstützt, 38,3 Prozent erleben dies auch bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Gut ein Drittel fühlt sich stark belastet durch die Schule, 22 Prozent berichten über „ein geringes Wohlbefinden in der Schule“.

„Die Förderung des Schulklimas und des sozialen Miteinanders in Schulen stellen daher wichtige Stellschrauben der Schülergesundheit dar, die in Maßnahmen schulischer Gesundheitsförderung berücksichtigt werden sollten“ betonte Dadacyznski. Etwa 45 Prozent der befragten Einrichtungen gaben an, dass das Lehrpersonal nicht oder kaum zu gesundheitsbezogenen Themen sensibilisiert werde.

Neben einer verstärkten Gesundheitsbildung – insbesondere bereits in der Lehramtsamtsausbildung - seien daher eine verstärkte Kooperation mit externen Einrichtungen aus dem Bereich Gesundheitsförderung und Prävention sowie eine bessere Zusammenarbeit mit Eltern zu Fragen der Kindergesundheit nötig.

Demokratie heißt auch Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle

„Eine demokratische Gesellschaft muss sicherstellen, dass Gesundheitsversorgung allen zugänglich ist“, betonte auch Dr. Christoph Aluttis, Referatsleiter des neuen „Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit“ (BIÖG) zum Kongressauftakt. Für das BIÖG, in die im Februar die einstige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) überführt worden ist, seien „Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit untrennbar miteinander verbunden“.

Das BIÖG werde „ganzheitliche, sektorübergreifende Ansätze verfolgen, die über den Gesundheitsbereich hinausgehen“. Auch Professor Rolf Rosenbrock, Vorstandsvorsitzender von Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V., versteht das BIÖG als „geeigneten institutionellen Ort zur Koordination einer wirksamen Public Health-Struktur“.

Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention seien auf einer gemeinsamen wissenschaftlichen Grundlage weiterzuentwickeln und gezielt in die Praxis zu bringen. Seit 2015 sollen die GKV-Institutionen für Prävention in Lebenswelten 40 Prozent ihrer Präventionsmittel ausgeben. Das seien, so Rosenbrock, rund 170 Millionen Euro für nicht-betriebliche Lebenswelten und etwa 250 Millionen Euro für betriebliche Gesundheitsförderung pro Jahr.

„Angesichts der hunderttausenden Lebenswelten, die eine solche Intervention ‚eigentlich‘ brauchen und auch wollen, ist das viel zu wenig“, sagte Rosenbrock. Hinzu komme, dass infolge der Konkurrenz innerhalb der GKV diese Mittel nicht zielgenau zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit verwendet werden und dass auch die Qualitätssicherung und Evaluation große Defizite aufweise.

Rosenbrock forderte, das Präventionsgesetz zu novellieren und die Fundamente eines Public Health-Systems in Deutschland zu schaffen. Insbesondere müsste die Nationale Präventionskonferenz um weitere Akteure – etwa aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst – erweitert werden.

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