Pandemie-Verlauf
Lockdown 3.0: Wie es soweit kommen konnte und was jetzt nötig ist
Seit Mitte Juli ist es Deutschland nicht mehr gelungen, das exponentielle Wachstum bei den Corona-Neuinfektionen in den Griff zu bekommen. Um das nun zu schaffen, müsste vor allem der Reiseverkehr stärker kontrolliert werden. Teil 1 unserer Serie in Kooperation mit iGES.
Veröffentlicht:Auf die Frage, warum das Weihnachtsfest nunmehr durch einen „harten“ Lockdown vermasselt wird, gibt es eine einfache Antwort: Weil es in Deutschland seit Mitte Juli nicht gelungen ist, die Tendenz dieser Pandemie zum exponentiellen Wachstum zu kontrollieren. Auch der letzte „leichte“ Lockdown hat nichts gebracht. Jetzt droht eine weitere Eskalation in Größenordnungen, die vom Gesundheitssystem eventuell nicht mehr verkraftet werden könnten.
Dabei haben wir die erste Welle mit dem Lockdown 1.0 bravourös gemeistert. Ende Mai lagen wir bundesweit lediglich bei rund gut 300 Neuinfektionen täglich und die Steigerungsrate wies über längere Zeit deutlich negative Werte aus. Der Kampf konnte ein zweites Mal gewonnen werden, als Mitte Juni die Fallzahlen infolge von Ausbrüchen in der Fleischindustrie und im Anschluss an das familiär wichtige Zuckerfest auf rund 600 täglich in die Höhe gingen. Dank massiver Eingriffe wurden sie wieder auf rund 350 Neuinfektionen pro Tag gedrückt.
Störfaktor Sommerferien
Doch dann setzte die entscheidende Entwicklung ein, ab der die Tendenz zur Steigerung nicht mehr eingefangen werden konnte: Die Sommerferien in zahlreichen Bundesländern und insbesondere in Nordrhein-Westfalen bewirkten von Mitte Juli bis Mitte August eine Steigerung um rund tausend Fälle pro Tag (Phase 3). Damals gingen zwischen 49 Prozent und 64 Prozent der Neuinfektionen auf Urlaubsrückkehrer zurück, die sich im Ausland infiziert hatten.
Lesen Sie alle Folgen der Serie
NRW wurde dieser Situation nach dem Ende der Ferienzeit zwar kurzfristig wieder etwas Herr. Eine zweite Welle von Reiserückkehrern insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg ließ die bundesweiten Neuinfektionen aber dann weiter von etwa 1200 auf 1750 täglich wachsen.
Nachbarländer mit hohen Inzidenzen
Diese vierte Phase konnte nicht mehr gebrochen werden und ging ab Oktober in eine fünfte Phase mit Steigerungsraten von bis zu 75 Prozent gegenüber der Vorwoche und einem Anstieg der täglichen Fallzahlen auf das Zehnfache (18.000) über. Diese entscheidende Infektionswelle wurde durch Familienfeiern ausgelöst, insbesondere Hochzeiten, die wegen des ersten Lockdowns auf den Spätsommer verschoben worden waren. Beschleunigend wirkte aber vor allem, dass in nahezu allen Nachbarländern bis zu zehnfach höhere Inzidenzwerte vorherrschten. Diese führten hauptsächlich in den Grenzregionen, insbesondere in Sachsen und Bayern, zu starken Anstiegen, die sich dann auf nahezu das gesamte Bundesgebiet ausdehnten.Der Lockdown „light“ vom 1. November an bewirkte dann nur noch einen Stopp des Anstiegs und ein Arretieren der täglichen Neuinfektionen bei etwa 18.000. Ein nennenswerter Rückbau misslang bundesweit (Phase 6), obwohl einige Bundesländer wie Hamburg oder Bremen und gegen Ende November auch NRW ihre Fallzahlen noch ein wenig senken konnten. Außer Kontrolle waren Bayern, Berlin, Sachsen und Thüringen.
In fast allen Bundesländern kam es somit ab Ende November zu einem erneuten Anstieg der Fallzahlen (Phase 7). Ursache sind vermutlich vermehrte Kontakte infolge der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest und die Weihnachtsferien. Diese Entwicklung hat nunmehr die politische Entscheidung für einen weiteren bundesweiten Lockdown getriggert, der dritte insgesamt und der zweite „harte“. Er hat am 16. Dezember begonnen und soll „zunächst“ bis 10. Januar gelten.
Halbierung der Fallzahlen möglich
Die weitere Entwicklung wird in der Perspektive von mindestens drei Monaten noch nicht von dem zu erwartenden Impfprogramm beeinflusst werden. Theoretisch könnte sich ein kompletter Lockdown aber ähnlich wie zu Beginn des Jahres auswirken, wonach zumindest eine Halbierung der täglichen Fallzahlen auf rund 10.000 bis Mitte Januar denkbar wäre.
Die bisherigen Pandemie-Erfahrungen lehren uns ganz deutlich, dass Ferienzeiten und der Grenzverkehr mit hoch inzidenten Nachbarländern wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Lage so eskaliert ist. Für den Erfolg des aktuellen „harten“ Lockdown bedeutet dies, dass diese beiden Einflüsse unbedingt kontrolliert werden müssen. Die Ursprungsländer der meisten Auslandsinfektionen im Sommer lagen damals überwiegend auf dem Balkan und in der Türkei. Dort herrschen aber derzeit erneut Inzidenzen, die gegenüber Deutschland vielfach höher liegen. Auslandsinfektionen sind somit vorprogrammiert.
An Tabus beim Reiseverkehr rütteln
Die momentanen Regeln sehen lediglich eine Quarantänepflicht bei der Einreise vor, deren Einhaltung schwer oder nicht zu überwachen ist. In NRW ist sie sogar per Gerichtsurteil gekippt worden. Massenhafte Tests an den Flughäfen und den Landesgrenzen sind vermutlich wenig hilfreich.
Es ist daher zu befürchten, dass ein erheblicher Teil der erzielbaren Effekte durch den aktuellen Lockdown am Ende der Ferien wieder zunichtegemacht werden könnte. Auch wenn die Kontrolle des Reiseverkehrs ein politisches Tabu darstellt, sollte darüber nachgedacht werden, wenigstens für diesen entscheidenden Zeitraum.
Der IGES Pandemie Monitor
Wie ist die zweite Pandemie-Welle entstanden? Wie hätte sie verhindert werden können? Was kennzeichnet das derzeitige Ausbruchsgeschehen? Antworten auf diese und andere aktuelle Fragen gibt der IGES Pandemie Monitor. Seine Mission ist es, mehr Orientierung in der Corona-Pandemie zu geben.
Er bietet differenzierte Analysen über die Entwicklung der Pandemie und über die Treiber von Infektionen mit SARS-CoV-2. Dies soll die Anstrengungen aller unterstützen, die Pandemiedynamik besser zu verstehen und die richtigen Maßnahmen zu treffen.
Der IGES Pandemie Monitor versteht sich auch als Antwort auf das durch die Corona-Krise entstandene, große allgemeine Interesse an Gesundheitsdaten. Dem begegnet vor allem der Datenjournalismus mit einem zuvor noch nie gekannten Informationsangebot. Unzählige Statistiken, Grafiken und Abbildungen bebildern in den tagesaktuellen Medien das Infektionsgeschehen. Was jedoch vielfach fehlt, ist Einordnung, Bewertung und Gewichtung der sich täglich ändernden Faktenlage:
Nötig ist mehr Differenzierung statt Pauschalierung. Genau da setzt der IGES Pandemie Monitor an: So zeigt er kurz-, mittel- und langfristige Trends des Pandemieverlaufs. Diese zeitliche Dreiteilung spiegelt sich in den Rubriken „Aktuelle Lage“, „Entwicklungen“ und langfristige „Analysen“ wider. Bereits während des aktuellen Verlaufs arbeitet der Monitor die Faktoren heraus, die maßgeblich das Pandemiegeschehen beeinflussen.
Datengrundlage sind neben den Meldedaten des RKI weitere Informationen wie soziodemographische, geographische oder spezifisch regionale und infrastrukturelle Fakten.
Ziel ist es zudem, Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Eindämmungsmaßnahmen zu gewinnen, um das Management der Krise vor Ort möglichst ressourcenschonend und präziser zu gestalten.
Wo eine aktuelle Analyse der Ursachen nicht zweifelsfrei gelingt, weil etwa die verfügbare Datenbasis zu schmal ist oder weil weitere Entwicklungen abgewartet werden müssen, wird der IGES Pandemie Monitor Hypothesen formulieren und entsprechende Fragen stellen – auch im gewünschten Dialog mit seinen Nutzern. Dies soll dazu beitragen, neue Akzente für das Krisenmanagement zu setzen.
Der IGES Pandemie Monitor wird als Internetseite präsentiert, deren Inhalt laufend an das Geschehen angepasst wird.