Krise in Griechenland

"Mir fehlten im OP die Instrumente"

Geschlossene Kliniken, volle Wartezimmer, gekürzte Arzt-Gehälter: Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" gibt der Chirurg Dr. Boris Treptow einen Einblick in den Arbeitsalltag im von der Krise gezeichneten Griechenland.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:
Seit Jahren krankt das griechische Gesundheitssystem. Überfüllte Wartezimmer und Schlange stehende Patienten gehören deshalb zum Alltag.

Seit Jahren krankt das griechische Gesundheitssystem. Überfüllte Wartezimmer und Schlange stehende Patienten gehören deshalb zum Alltag.

© Pantelis Saitas / dpa

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Treptow, wie schätzen Sie die aktuelle Lage des griechischen Gesundheitswesens ein?

Dr. Boris Treptow

1963 in München geboren; sein Vater ist Deutscher, seine Mutter Griechin

Nach dem Studium in Mailand und der Facharztausbildung in Athen erste Facharztanstellung an deutschem Uniklinikum

2003 Rückkehr nach Athen

Seit Januar 2014 als Oberarzt in der Chirurgie am Uniklinikum Heraklion auf Kreta tätig

Dr. Boris Treptow: Nach dem Ausbruch der Krise wurden tiefe Einschnitte durchgeführt: Krankenhäuser wurden geschlossen, Gehälter mehrmals gekürzt, für scheidendes Personal durfte kein Ersatz eingestellt werden. Als angestellter Chirurg habe ich seit 2010 zweimal die durch die Sparpolitik bedingte Schließung meines Krankenhauses miterlebt.

Die vorher bereits nicht üppige Bettenanzahl öffentlicher Krankenhäuser schrumpfte, auch qualitativ: Beispielsweise stehen in Deutschland etwa 5 Prozent der Betten auf einer Intensivstation, Griechenland müsste demnach etwa 1800 Intensivbetten haben.

In Wirklichkeit sind es offiziell 540 - und niemand weiß, wie viele davon tatsächlich durch Personalmangel bedingt in Betrieb sind.

Heute arbeiten viele Kliniken immer öfter ganz ohne Assistenzärzte, die Dienstpläne können nicht vollständig ausgefüllt werden und man sucht, vor allem in ländlichen Gegenden, vergebens nach bestimmten Fachärzten.

Wie sieht die Situation in der primären Gesundheitsversorgung aus?

Treptow: Die öffentliche primäre Gesundheitsversorgung, die in Griechenland aus Ambulanzen und kleinen Kliniken, sogenannten Gesundheitszentren, besteht, besitzt ebenfalls kein ausreichendes Personal. Vor der Krise mieden die Patienten die unterfinanzierte, ineffiziente öffentliche Grundversorgung und wichen auf den Privatsektor gegen Bezahlung aus.

Daher ist das Patientenaufkommen in öffentlichen Einrichtungen nun enorm gestiegen. Die Patienten bilden Schlangen, die Wartezeiten betragen häufig viele Stunden, wobei das ärztliche, pflegerische und technische Personal - wie in den Krankenhäusern auch - an der Grenze zum Burnout arbeitet.

Wie hat sich die Krise auf Ihre persönliche Arbeit ausgewirkt?

Treptow: Seit Beginn der Krise 2010 hat sich mein Gehalt - Kürzung um Kürzung - fast halbiert. 1995 verdiente ich als Assistenzarzt in Athen ein klein wenig mehr als heute. Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienste bei Oberärzten werden seit einigen Jahren nur noch mit 3,43 bis höchstens 8,92 Euro pro Stunde bezahlt, oft auch viele Monate später, häufig mit einem - wie auch immer begründeten - Abschlag.

Wie Millionen Mitbürger hier in Griechenland frage ich mich auch: Für wessen Schulden bezahle ich da eigentlich seit Jahren? Und warum hat sich die Situation in den fünf Jahren stets nur verschlechtert?

Inwiefern haben sich die Probleme der Patienten verändert?

Treptow: Die Erhöhung der Ölsteuer und die damit verbundene Benutzung von Holzöfen zum Heizen hat zu einer Steigerung der Fallzahlen von Patienten mit COPD und Asthma geführt. Eine Studie unserer Onkologen wies zudem auf, dass es bei Krebspatienten zu einer verspäteten Erstdiagnose kam, weil sie sich - aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren - erst verspätet in Behandlung begaben.

Weitere Problembereiche sind der Rückgang der Kinderimpfungen, ein Anstieg der kardiovaskulären Risikofaktoren bei schlechter Ernährung, die enorm gestiegene HIV-Infektionsrate bei Drogenabhängigen, ein Anstieg von Depressionen und Angststörungen sowie ein Anstieg der Selbstmordraten, gerade bei Menschen in arbeitsfähigem Alter.

Auch die gestiegene Morbidität der bei uns aufgenommenen Patienten ist ein Problem - sie ist oft auf eine aus finanziellen Gründen verminderte Medikamenteneinnahme zurückzuführen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass einige Pharmakonzerne wegen Zahlungsrückständen ihre Lieferungen eingestellt haben?

Treptow: Nein. Ich bin Arzt. Wenn jemand einen Pharmakonzern betreibt, sollte er sich der entsprechenden Verantwortung bewusst sein und diese übernehmen - schließlich sprechen wir nicht über eine Pralinenfabrik.

Beziehen sich die Engpässe lediglich auf die Arzneimittelversorgung?

Treptow: Keinesfalls. Die Arzneimittelversorgung in Apotheken und Krankenhäusern ist sogar recht gut, was auch auf eine florierende und auch exportierende einheimische Pharmaindustrie zurückzuführen ist - die aber durch die Forderung der Gläubiger einer 35-prozentigen Preissenkung bei Generika vor dem Aus stehen könnte.

Das Problem ist vielmehr, dass sich die enorme Zahl der Unversicherten die Arzneien nicht mehr leisten kann. An vielen Krankenhäusern herrschen weitere Mängel, von fehlenden Verbänden und Handschuhen bis hin zu chirurgischen Instrumenten.

Bis vor meiner Anstellung in Heraklion standen mir an einem staatlichen Großkrankenhaus in Athen bei Not-Operationen häufig keine laparoskopischen Instrumente zur Verfügung, Klammernahtgeräte fehlten regelmäßig.

Woran mangelt es dem griechischen Gesundheitssystem am meisten?

Treptow: Dem griechischen Gesundheitssystem mangelt es an einer Zukunftsperspektive. Junge griechische Ärzte werden unter großen Kosten vor Ort ausgebildet, um dann auszuwandern, vor allem nach Deutschland.

Das Personal im Gesundheitswesen vermindert sich zahlenmäßig und veraltet, mit all den praktischen und wissenschaftlichen Konsequenzen. Dabei muss dieses Personal eine immer größere und kränkere Patientenzahl versorgen, die nur deswegen nicht ins Maßlose anwächst, weil die unzureichende Finanzierung des Gesundheitssystems viele außen vor lässt.

Am Montag haben die Euro-Finanzminister zumindest den Weg für eine Einigung im Schuldenstreit geebnet. Inwiefern lässt Sie das hoffen?

Treptow: Die Einigung der Euro-Finanzminster hat vorerst eine Katastrophe abgewendet und lässt uns daher erleichtert tief Luft holen. Wie viel Luft wir dazu allerdings erhalten, das wird sich noch zeigen. Viele Sparmaßnahmen, die in die Rezession geführt haben, werden fortgesetzt. Renten, Löhne und Gehälter von vielen Hunderttausenden werden auch in Zukunft nicht zum Leben reichen.

In Bezug auf die Gesundheitsversorgung ist abzuwarten, ob die in den letzten Jahren bis auf unter die 5 Prozent des BIP gedrückten Ausgaben für Gesundheit den überlebenswichtigen Kernfragen angepasst werden "dürfen".

Der zunächst verhinderte Grexit ist ein Erfolg und ich hoffe, es gibt keine weiteren Rückschläge. Niemand hätte voraussehen können, wie schlimm die Lage der Gesundheitsversorgung werden würde. Eine humanitäre Katastrophe in Friedenszeiten? Das wäre absurd und zu verurteilen.

Lesen Sie dazu auch: Versorgung in Griechenland: "Das ist Dritte Welt in Europa"

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