Forsa-Umfrage
Ob Land oder Kleinstadt – ohne Arzt läuft’s nicht
Menschen in ländlichen Regionen fühlen sich zunehmend abgehängt von einer guten medizinischen Versorgung. Das ergab eine aktuelle Umfrage. Eine Initiative der AOK will das nun ändern. 100 Millionen Euro sollen an aus der Ärzteschaft heraus mitentwickelte pragmatische Ansätze fließen.
Veröffentlicht:BERLIN. Der Hausarzt in der Nähe ist für die Menschen in Deutschland der wichtigste Baustein der Infrastruktur. 95 Prozent der Befragten in einer Forsa-Umfrage im Auftrag der AOK finden dieses Element der Infrastruktur am bedeutendsten. Erst danach folgen: Einkaufsmöglichkeiten (93 Prozent), Breitbandanschluss fürs Internet (90 Prozent), Krankenhäuser (87 Prozent) und öffentlicher Nahverkehr (83) Prozent. Die Befragungsergebnisse wurden am Mittwoch vorgestellt.
Diese Werte der Umfrage mit 2000 Teilnehmern schließen Stadt und Land gleichermaßen ein. Die Realität folgt diesen Ansprüchen nur bedingt.
Landbewohner – zu ihrer tatsächlichen Versorgungssituation befragt – zeigen sich danach deutlich unzufriedenen mit dem Angebot an Fachärzten und Krankenhäusern. Das gilt auch für die Bewohner kleiner und mittlerer Städte, die eine Verschlechterung der Versorgung sowohl im niedergelassenen wie auch im stationären Sektor wahrnehmen. Es gibt das Gefühl, abgehängt zu sein.
Mobile Arztpraxen für die Landversorgung?
Mit der Initiative „Stadt. Land. Gesund“ plant die AOK, in den kommenden 24 Monaten konkrete Angebote zu schaffen, um das Niveau der Gesundheitsversorgung in Stadt und Land wieder anzunähern. Das hat der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Martin Litsch am Mittwoch in Berlin angekündigt.
Den Menschen gehe es nicht allein um die Verfügbarkeit, sondern auch um die konkrete Versorgung im Krankheitsfall, sagte Litsch. 75 Prozent der von Forsa Befragten haben mit zwischen Ärzten abgestimmten Behandlungsabläufen keine oder nur selten schlechte Erfahrungen gemacht. Den AOK-Chef beunruhigen aber die 24 Prozent, die an solchen Abläufen Kritik geübt haben.
Die Ortskrankenkassen setzen daher vor allem auf innovative Versorgungsformen wie mobile Arztpraxen, Delegation ärztlicher Leistungen an dafür qualifizierte Kräfte und Videosprechstunden. „Digitale Lösungen und Delegationsansätze sorgen dafür, dass bei der Behandlung räumliche Distanz überwunden wird und Patienten einen schnelleren Zugang zur Versorgung bekommen“, sagte Dr. Irmgard Stippler, Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern am Mittwoch.
Etwa 100 förderwürdige Projekte hat die AOK bundesweit identifiziert. Für sie und die Entwicklung neuer Projekte sollen 100 Millionen Euro fließen.
Die Forsa-Umfrage liefert Rückendeckung für solche neuen Versorgungsideen. So finden vom Arzt abgestellte mobile medizinische Fachkräfte bei 91 Prozent der Befragten Zustimmung. 82 Prozent können sich vorstellen, die rollende Arztpraxis aufzusuchen, und immerhin jeder zweite steht Videosprechstunden aufgeschlossen gegenüber.
Versorgungslücken – Appelle an die Politik
Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat umgehend die Aufgabe des unbedingten Arztvorbehalts für unterversorgte Regionen gefordert. Es bedürfe eines neuen Aufgabenzuschnitts, der Substitution ärztlicher Leistungen und mehr Autonomie für Pflegefachkräfte, forderte DBfK-Präsidentin Professor Christel Bienstein.
Durchschlagende Erfolge bei Verbesserung der Versorgung auf dem Land traut Litsch weder der Politik mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) zu noch den KVen, die „keine Ärzte aufs Land zwingen“ könnten. Auf regionaler Ebene handele die Ärzteschaft gemeinsam mit den Krankenhäusern, Kassen, Kommunen, Landesministerien und der Wirtschaft längst pragmatisch, wie in zahlreichen Graswurzelprojekten zu besichtigen sei, sagte Litsch.
In einem Jahr, in dem in strukturschwachen Ländern wie Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt wird, werden Mangeltendenzen in der ärztlichen Versorgung auch politisch adressiert.
Schlagabtausch zur Regionalkomponente im Morbi-RSA
Die Initiative der AOK gilt als Versuch, eine Regionalkomponente im Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu verhindern. An dessen Reform arbeitet derzeit das Bundesgesundheitsministerium.
Für AOK-Chef Martin Litsch wäre eine Regionalkomponente ein Instrument, rund eine Milliarde Euro aus unterversorgten ländlichen Regionen wie der Uckermark oder dem Bayrischen Wald in tendenziell eher überversorgte Städte umzuleiten. Damit würden Kassen unterstützt, die höhere Marktanteile in Ballungsgebieten und Städten haben. „Metropolzuschläge“ passten nicht zur mit der Forsa-Umfrage ermittelten Gefühlslage der Bevölkerung, so Litsch. Das sei „versorgungspolitisch wahnwitzig“.
Der Konter aus dem angesprochenen Ersatzkassenlager folgte auf dem Fuße. Die Kritik an der Regionalkomponente sei ein „Amoklauf gegen jedwede Vernunft in der GKV, meldete sich die Barmer zu Wort.
Die fehlende Regionalkomponente im Morbi-RSA habe zur ungerechtfertigten Überdeckung von Regionalkassen und zur dramatischen Unterdeckung bundesweit agierender Kassen geführt. Das habe auch der Wissenschaftliche Beirat in seinem Gutachten zur Reform des Morbi-RSA unmissverständlich festgestellt, hieß es in einer Pressemitteilung von Mittwoch.
Dadurch sei das GKV-System in eine gefährliche Schieflage geraten. Es fließe zu viel Geld in die ländlichen Regionen, wo die Versorgungskosten grundsätzlich niedriger seien.
Mit dem eingesparten Geld hätten die AOKen nichts gegen die Versorgungsdefizite auf dem Land unternommen.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar: AOK-Projekt: Klare Ansage an die Politik