Fixierung im Heim

Pflegekräfte fühlen sich "mutterseelenallein"

Bei der Entscheidung über eine Fixierung wenden sich alle Verfahrensbeteiligten zumeist an die Pflegekraft. Über Alternativen wurde beim Kölner Sozialrechtstag diskutiert.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Zusatzmatratzen statt Bettgitter: Demenzkranke Bewohnerin im Seniorenzentrum Theresienau in Bonn.

Zusatzmatratzen statt Bettgitter: Demenzkranke Bewohnerin im Seniorenzentrum Theresienau in Bonn.

© Rolf Vennenbernd/dpa

KÖLN. Wenn eine Pflegekraft in Altenpflegeeinrichtungen die Fixierung eines Patienten anregt, löst das häufig einen fatalen Dominoeffekt aus.

Der Betreuer beantragt die Maßnahme beim Amtsgericht, der zuständige Richter bestellt einen Verfahrenspfleger und holt Stellungnahmen von verschiedenen Stellen ein. Um sich ein Bild von der Lage zu machen, wenden sich der Richter, der Verfahrenspfleger und die anderen Beteiligten meist an ein und dieselbe Person: die Pflegekraft.

"Die Pflege fühlt sich mutterseelenallein mit der Verantwortung", berichtet Dr. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, beim 13. Kölner Sozialrechtstag. Er ist einer der Initiatoren des "Werdenfelser Weges", einer Initiative zur Vermeidung von Fixierungen. "Wir wollen den automatischen Entscheidungen den Kampf ansagen", sagt er.

Leitlinie FEM

Die Initiative zur Vermeidung freiheitseinschränkender Maßnahmen (FEM) in der beruflichen Altenpflege hat im Jahr 2012 eine fast 300 Seiten umfassende evidenzbasierte Praxisleitlinie zur Vemeidung von FEM vorgelegt: www.leitlinie-fem.de/download/LeitlinieFEM.pdf

Daraus destilliert wurden 24 Empfehlungen zur Reduktion von FEM: www.leitlinie-fem.de/download/24-Empfehlungen-der-Leitlinie-zur-Reduktion-von-FEM.pdf

Die Entscheidung für eine Fixierung erfolgt in den Einrichtungen häufig aus Angst vor Haftungsproblemen oder finanziellen Forderungen von Angehörigen, falls einem Bewohner durch einen Sturz etwas passiert. Dabei seien die Befürchtungen in den meisten Fällen unbegründet, wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zeige, sagt Kirsch.

Haftungsängste dominieren

Er hält die Ausgangslage für denkbar schlecht. "Der Einzige, der fachliches Wissen hat, wird von Haftungsängsten geleitet, alle anderen vertrauen auf seine fachliche Beurteilung mangels eigener Fachkenntnisse." Gefragt sei stattdessen der Mut zu einer gemeinsam getragenen Einzelfallentscheidung.

Über die Zahl der Fixierungen gibt es keine belastbaren Zahlen. Viele Schätzungen gehen von 240.000 im Jahr aus, manche sogar von 400.000, sagt er. Dabei seien die mit den Maßnahmen verbundenen Risiken bekannt, die bis zum Tod durch Strangulation, Brustkompression oder Kopfschieflage reichen können.

Durch die Fixierung verschlechtert sich häufig der körperliche und psychische Zustand der Patienten. Zudem steigt das Sturzrisiko, das ja eigentlich verringert werden soll. "Wir müssten 240.000 Mal über diese Konsequenzen nachdenken."

Er weiß nur zu gut, dass das lange Zeit nicht der Fall war. "Ich kannte die Probleme lange nicht und habe mehrere Jahre Genehmigungen erteilt", berichtet der Richter. Das von Kirsch gemeinsam mit Josef Wassermann, dem Leiter der Betreuungsstelle am Landratsamt Garmisch-Partenkirchen, im Jahr 2007 entwickelte Konzept des "Werdenfelser Weges" will eine Alternative zu den bisherigen Entscheidungsprozessen schaffen.

Juristisch geschulte Pflegekräfte

"Unsere Idee ist, dass wir uns Leute mit Pflegeerfahrung suchen, die wir zu Verfahrenspflegern machen statt wie bisher Juristen", erläutert er. Die juristisch geschulten Pflegekräfte gehen bei einem Antrag auf Fixierung in die Einrichtung und diskutieren mit den Pflegekräften und den Angehörigen über den jeweiligen Fall und überlegen Alternativen zur Fixierung.

Zum Schluss gibt der Verfahrenspfleger nach Angaben von Kirsch eine in der Regel mit den Pflegeverantwortlichen und den Angehörigen gemeinsam erarbeitete pflegefachliche Empfehlung ab. "Unser Ziel sind einvernehmliche Lösungen, und das gelingt erstaunlich oft." Zwar geht es immer um den Einzelfall, doch die Initiatoren setzen auf den Lerneffekt. "Wenn ein Verfahrenspfleger zwei bis drei Mal im Haus war, wird es keinen erneuten Antrag geben."

Der "Werdenfelser Weg" wird inzwischen in vielen Regionen beschritten. So haben bundesweit rund 175 Landkreise oder Städte das Konzept umgesetzt oder haben die Umsetzung beschlossen. 100 weitere haben Interesse bekundet. Die bundesweite Vernetzung ist ein wichtiger Teil der Initiative, betont Kirsch. "Inzwischen tauschen sich insgesamt 180 Richter über die Thematik aus." 600 Verfahrenspfleger sind entsprechend geschult worden.

Die positiven Erfahrungen aus der Altenpflege zeigen nach seinen Angaben inzwischen auch in der Behindertenhilfe sowie in psychiatrischen und somatischen Krankenhäusern Wirkung. Seit 2010 gehe die Zahl der Fixierungen bundesweit zurück, berichtet der Jurist. 2013 wurden bundesweit 22.392 dieser Maßnahmen genehmigt.

Das waren 23 Prozent weniger als zwei Jahre zuvor. Das Ziel des "Werdenfelser Weges" sei aber mehr als die Vermeidung von Fixierungen, sagt Kirsch. "Es geht um eine Veränderung der gelebten Pflegekultur."

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