Analyse von Abrechnungsdaten
Praxisgebühr war Turbo für die hausärztliche Patientensteuerung
Die ungeliebte Praxisgebühr hat überraschend starke Effekte auf die Steuerung von Patienten gehabt: Das geht aus einer Analyse der Abrechnungsdaten aus Bayern hervor.
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Rund jeder zweite GKV-Patient suchte im Jahr 2011 einen Facharzt auf Überweisung eines Hausarztes auf – das hat sich stark geändert.
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Berlin/München. Diese Ergebnisse sollten Gesundheitspolitiker aufrütteln: Nach Abschaffung der Praxisgebühr ist der Anteil der hausärztlich gesteuerten Patienten von rund 50 Prozent (2011) auf knapp 16 Prozent (2016) drastisch eingebrochen. Zugleich nahm die Morbidität bei ungesteuerten Patienten mit psychischen und chronischen Erkrankungen zu.
Das sind einige der Ergebnisse einer retrospektiven Analyse anonymisierter Abrechnungsdaten der KV Bayerns von mehreren Millionen Patienten im Zeitraum von 2011 bis 2016 (2011/2012 mit, 2013-2016 ohne Praxisgebühr), die in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin publiziert wurden (ZFA, 2021; 97 (11); 444-450).
Schwache Steuerung im Vergleich
Eingeschlossen wurden gesetzlich Versicherte mit Mindestalter 18 Jahren und Hauptwohnsitz in Bayern. Patienten galten in der Erhebung dann als „hausärztlich gesteuert“, wenn alle Facharztkontakte innerhalb eines Quartals auf einer hausärztlichen Überweisung basierten.
15,5 Prozent
betrug der Anteil hausärztlich gesteuerter Patienten im ersten Quartal 2016. Fünf Jahre zuvor – als die Praxisgebühr noch in Kraft war– wurde rund jeder zweite Patient von Hausärzten überwiesen.
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Versorgungssteuerung durch Primärversorger in Deutschland schwächer ausgeprägt als in anderen EU-Staaten. Um hier entgegenzusteuern und die koordinierende Rolle von Hausärzten zu stärken, wurde im Jahr 2004 die Praxisgebühr eingeführt. In jedem Quartal mussten erwachsene Patienten für den ersten ambulanten Arztkontakt ohne Überweisung eine Gebühr von zehn Euro entrichten. Ende 2012 wurde sie abgeschafft, da der bürokratische Aufwand als zu hoch angesehen wurde.
Bisher gab es jedoch keine vergleichende Analyse darüber, wie sich die hausärztliche Versorgungskoordination in Bayern nach Abschaffung der Praxisgebühr im Vergleich zu der Zeit davor entwickelt hat. Dass diese Veränderungen derart drastisch ausfallen hat selbst Wissenschaftler überrascht, wie Professor Antonius Schneider, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Klinikum rechts der Isar der TU München, einräumt.
Die Ergebnisse im Detail:
Von allen Patienten, die im 1. Quartal 2011 einen steuerungsrelevanten Facharztkontakt hatten (3,4 Millionen), waren 1,68 Millionen (49,6 Prozent) hausärztlich gesteuert. Etwa genauso viele Patienten (1,71 Millionen) waren ungesteuert.
Im ersten Quartal nach Abschaffung der Praxisgebühr (1/2013) sank die Zahl der hausärztlich gesteuerten Patienten auf 25,2 Prozent. Der Anteil der ungesteuerten Patienten schnellte auf 74,8 Prozent hoch.
Noch drastischer fiel der Effekt im 1. Quartal 2016 aus: Nur noch rund 568 .000 (15,5 Prozent) der Patienten mit Facharztkontakt waren hausärztlich gesteuert. 84,5 Prozent jedoch – über drei Millionen Patienten (3,09 Millionen) – suchten in diesem Zeitraum Fachärzte ohne eine hausärztliche Überweisung auf.
Jünger und eher urban geprägt
Weitere Ergebnisse aus der Datenanalyse: Ungesteuerte Patienten sind im Schnitt jünger, wohnen eher in städtisch geprägten Regionen und sind etwas häufiger weiblich. Zudem hat sich herausgestellt, dass die Morbidität von Patienten mit chronischen und psychischen Erkrankungen nach Abschaffung der Praxisgebühr bei ungesteuerten Patienten gestiegen ist. Wie sich das auf die Kostenentwicklung auswirkt, war nicht Gegenstand dieser Erhebung.
Schneider verweist aber auf die Ergebnisse früher Studien seines Lehrstuhls, nach denen Patienten mit hausärztlicher Steuerung im Schnitt 9,45 Euro geringere ambulante Kosten (haus- und fachärztlicher Leistungsbedarf sowie Verordnungskosten) pro Quartal auslösten als vergleichbare Patienten ohne Steuerung. Bezogen auf alle Versicherten in Bayern summiert sich dieser Einspareffekt auf geschätzt 50 Millionen Euro pro Jahr. Eine Stärke der Studie ist nach Darstellung von Schneider die Analyse von Daten, die 85 Prozent der bayerischen Bevölkerung über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg abdecken und damit als repräsentativ gelten können.