AOK-Report

Psychopharmaka im Heim oft Dauermedikation

Heimbewohnern werden zu viele Psychopharmaka verordnet, stellt der AOK-Pflegereport fest. Nichtmedikamentöse Betreuung und mehr Arztkontakt könnten Gegenstrategien sein.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
43 Prozent der Menschen mit einer Demenz werden in Heimen Neuroleptika verschrieben, oft über Jahre, aber nur 24 Prozent Antidementiva.

43 Prozent der Menschen mit einer Demenz werden in Heimen Neuroleptika verschrieben, oft über Jahre, aber nur 24 Prozent Antidementiva.

© Arno Burgi / ZB / picture-alliance / dpa

BERLIN. 800.000 Menschen in Deutschland leben in Pflegeheimen, mehr als die Hälfte ist älter als 85 Jahre. Ein bis zwei Drittel von ihnen gelten als von einer Demenz betroffen. Auf genaue Zahlen konnten sich die Wissenschaftler bislang nicht festlegen.

Die Gesundheitsweise Professor Petra Thürmann ist sich jedoch sicher, dass die Medikation der Menschen in Altenheimen verbesserungswürdig sei. So erhielten 43 Prozent der Menschen mit einer Demenz in Heimen Neuroleptika verschrieben, oft über Jahre, aber nur 24 Prozent Antidementiva. "Der breite und dauerhafte Einsatz von Neuroleptika bei Pflegeheimbewohnern verstößt gegen die Leitlinien, sagte die Pharmakologin Thürmann, die dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen angehört, bei der Vorstellung des AOK-Pflege-Reports 2017 am Mittwoch in Berlin.

 

An dieser Stelle finden Sie Inhalte aus Datawrapper Um mit Inhalten aus Datawrapper zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir Ihre Zustimmung. Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte aus Sozialen Netzwerken und von anderen Anbietern angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät notwendig. Weitere Information dazu finden Sie hier.

Menschen, die an einer Demenz leiden, seien unruhig, verbal und sogar physisch aggressiv, sagte Thürmann. Diese Auffälligkeiten ließen sich durch Neuroleptika dämpfen. Tatsächlich entspreche das aber nicht dem Zulassungsstatut. Neuroleptika seien als Medikamente zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen bei eher jüngeren Patienten entwickelt.In Ausnahmefällen können laut Thürmann Neuroleptika auch bei Psychosen von an einer Demenz erkrankten Menschen eingesetzt werden. Empfohlen sei die Gabe dann aber lediglich für Zeiträume unterhalb von sechs Wochen.

In der Versorgungsrealität in den Heimen scheint es zu Medikationen von einem Jahr und länger zu kommen. Das bestätigen die 2500 Pflegekräfte, die das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (WIdO) für den Pflege-Report dazu befragt hat. 64 Prozent der Bewohner erhielten demnach für länger als ein Jahr Psychopharmaka. Vier von fünf Pflegekräften hielten diesen Verordnungsumfang für angemessen. Noch mehr lobten die leichte Erreichbarkeit von Ärzten, wohl auch, um schnell auf die Verordnung von Psychopharmaka hinwirken zu können. "Das Problembewusstsein der Pflegekräfte muss hier offensichtlich geschärft werden", sagte Dr. Antje Schwinger vom WIdO. Zudem sollten Pflegekräfte besser darauf geschult werden, einsetzende Nebenwirkungen von Medikamenten zu erkennen.

Die Verantwortlichkeiten aus Sicht der AOK sind klar. "Die Verantwortung für die Verordnung liegt beim Arzt. Punkt!", so Martin Litsch. Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands wollte keine Korrelation zwischen Personalmangel und Umfang der Medikation herstellen. Die sei nicht belegbar. Es dürfe nicht sein, dass Ärzte über Quartale die Patienten nicht sähen, sondern nur Rezepte ausstellten.

Petra Thürmann ergänzte, dass die Psychopharmaka in der Regel von Neurologen, Psychiatern und Gerontologen verordnet würden, weniger von den Hausärzten. Wegen fehlender Abstimmung der Ärzte untereinander seien die Patienten oft der Wirkung regelrechter Psychopharmaka-Cocktails ausgesetzt, sagte Thürmann. Geboten sei ein enger Kontakt von Heimen mit wenigen Ärzten, die dafür mehr Bewohner betreuten. Dann werde die Versorgung übersichtlicher und für den einzelnen Arzt lohne sich öfterer Besuch im Heim.

Nichtmedikamentöse Betreuung ist den meisten Pflegekräften bekannt. Zu mehr als 80 Prozent sind sie auch von deren positiver Wirkung überzeugt. Aufgrund von Arbeitsverdichtung und Zeitmangel werde auf nichtmedikamentöse Interventionen zumindest teilweise auch verzichtet, berichtet mehr als die Hälfte der Pflegekräfte.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte aus Datawrapper Um mit Inhalten aus Datawrapper zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir Ihre Zustimmung. Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte aus Sozialen Netzwerken und von anderen Anbietern angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät notwendig. Weitere Information dazu finden Sie hier.

Jetzt abonnieren
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Vernetzte Versorgung

Ambulant-stationäres Projekt veröffentlicht Halbzeitbilanz

Kooperation | In Kooperation mit: AOK-Bundesverband
Kommentare
Thomas Georg Schätzler 07.04.201710:55 Uhr

Altenwohnheim, Altenheim und Altenpflegeheim!

@ Tina Katrin Zenker: Was mir immer wieder sauer aufstößt, es heißt A L T E N - Heime und nicht Altersheime. Diese Einrichtungen sind nicht Heime für das Alter, sondern für die alten Menschen, die darin wohnen, weil sie anderswo nicht mehr versorgt, gepflegt und betreut werden können.

Ob das Ganze dann ärztlich geleitet werden sollte, steht auf einem ganz anderen Blatt - Ihr Vergleich "Mittelalterliche Irrenanstalten" postuliert allerdings irrtümlich, dass angeblich "Geisteskranke - jetzt also Demenzkranke und damit der überwiegende Teil der Heimbewohner - in Verwahranstalten ohne ärztliche Leitung ihr Leben" fristen würden.

Sind an Ihnen eventuell die letzten 100 Jahre Sozialpsychiatrie, Sozialpsychologie, Geriatrie und Gerontologie reflexionslos vorbei gegangen? Oder was kann Ihre verbalen Entgleisungen gegenüber Senioren-Einrichtungen erklären?

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Tina Katrin Zenker 06.04.201714:40 Uhr

Mittelalterliche Irrenanstalten

Altersheime sollten ärztlich geleitet sein. Nur dadurch erreicht man eine klare Zuordnung der auch nach außen zu vertretenden ärztlichen Verantwortung. Die im Artikel erwähnte "fehlende Abstimmung der (konsiliarisch tätigen) Ärzte untereinander" wäre dann vermeidbar; sie läge in der Hand einer Person.
Die Zeiten, in denen Geisteskranke - jetzt also Demenzkranke und damit der überwiegende Teil der Heimbewohner - in Verwahranstalten ohne ärztliche Leitung ihr Leben fristeten, sollten doch längst der Vergangenheit angehören!

Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

S2k-Leitlinie

Husten – was tun, wenn er bleibt?

Lesetipps
Viele gesunde Lebnesmittel, darunter Gemüse, Lachs und Sesam, liegen auf einem Tisch.

© aamulya / stock.adobe.com

Leckere und gesunde Ernährung

Remission bei Morbus Crohn: Das glückt auch mit einer rein oralen Diät

Moderne Grafik eines Gehirns und eines Darms nebeneinander. Der Hintergrund ist mehrfarbig.

© KI-generiert watz / stock.adobe.com

Morbus Crohn und Colitis ulcerosa

Psychische Erkrankungen begünstigen CED-Schübe

Ein Modell eines Herzens steht auf einem Tisch.

© Jonima / stock.adobe.com (Generi

DGK-Jahrestagung

Präzisionsmedizin: Die Kardiologie ist auf dem Weg