FDP-Politiker im Interview
Ullmann: Corona-Impfprämie ist eine Möglichkeit – eine Impfpflicht würde abschrecken
Professor Andrew Ullmann, FDP-Gesundheitspolitiker und Infektiologe, warnt trotz der sich ausbreitenden Delta-Variante des Coronavirus davor, einseitig auf Inzidenzen zu starren. Wichtig seien auch andere Parameter – und mehr Fantasie beim Impfen.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Professor Ullmann, die bundesweite Corona-Inzidenz steigt erneut. Droht uns die vierte Welle der Pandemie?
Professor Andrew Ullmann: Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir die niedrigen Sieben-Tage-Inzidenzen, die wir zuletzt hatten – teils deutlich unter 5 je 100.000 Einwohner – nicht werden halten können. Entscheidender als die Zahl der Neuinfektionen sind aber Krankheitslast und Sterblichkeit infolge von Corona. Hier sinken sind die Werte kontinuierlich, was ich als positives Zeichen werte. Wir müssen weiter Vorsicht walten lassen, für Panikmache besteht kein Anlass.
Der Bundesgesundheitsminister warnt vor exponentiellem Wachstum bei den Infektionen. Schon im Oktober könne die Inzidenz auf 800 steigen. Ist die Warnung berechtigt?
Wir wissen, dass die Delta-Variante ansteckender ist. Diese macht mittlerweile auch in Deutschland den Großteil der Infektionen aus. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Viren mutieren. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass das Virus ansteckender wird.
Was die Frage anbetrifft, ob Delta harmloser oder gefährlicher ist als die Alpha-Variante oder der Wildtypus, sollten wir vorsichtig sein. Auch Delta kann bei vulnerablen Gruppen oder Menschen mit Vorerkrankungen zu schweren Infektionsverläufen führen.
Gleichwohl sind wir nicht in einer Überlastungssituation des Gesundheitssystems. Auch, weil immer mehr Menschen vollständigen Impfschutz haben. Jetzt schon Inzidenzen von 400, 600 oder mehr an die Wand zu malen, halte ich für nicht zielführend.
Die Inzidenz ist nicht mehr alleiniger Maßstab für die Frage, ob und wie weit gelockert wird. Auch die Auslastung der Intensivstationen sollen eine Rolle spielen. Überfällig?
Meine Fraktion hat das schon vor Wochen gefordert. Wir haben gesagt, das alleinige Betrachten der Inzidenz reicht nicht aus, um das Infektionsgeschehen vor Ort präzise zu bestimmen. Dazu müssen wir eben auch schauen, welche vulnerablen Gruppen sind in welchem Ausmaß betroffen, wie hoch sind die Testkapazitäten und wie stellt sich die Situation auf den Intensivstationen dar.
All das sind Parameter, die wir eingefordert haben. Die Koalition hat das immer abgelehnt. Auf keinen Fall darf es wieder zu flächendeckenden Schließungen aufgrund teils willkürlicher Inzidenzwerte kommen. Wir brauchen eine differenzierte Herangehensweise, keinen Holzhammer.
Die epidemische Notlage von nationaler Tragweite endet im September. Würden Sie die Aufhebung vorziehen?
Ja! Hintergrund der Einführung der Notlage im Frühjahr 2020 war die Sorge, der Bundestag könne wegen hoher Infektionszahlen bei den Abgeordneten ausfallen und die Bundesregierung handlungsunfähig werden. Das hat sich nicht bewahrheitet.
Deswegen haben wir uns schon früh dafür eingesetzt, dass die epidemische Notlage beendet wird und wieder alle Pandemiemaßnahmen der Regierung vom Parlament legitimiert werden müssen. Wir müssen so schnell wie möglich den Zustand beenden, dass am Parlament vorbei wichtige Entscheidungen getroffen werden – zumal diese nicht immer verhältnismäßig und evidenzbasiert waren.
Das Parlament ist in der Sommerpause, Ende September wird ein neuer Bundestag gewählt. Eine neuerliche Abstimmung in Sachen Notlage dürfte kaum möglich sein?
Ich halte das für problemlos. Der Bundestag kann jederzeit zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Das ist sogar die Pflicht von uns Abgeordneten, wenn es die Situation erfordert. Es braucht dafür freilich ein Drittel der Abgeordneten, Bundespräsident oder Bundeskanzlerin, die eine solche Sondersitzung beantragen. Das sehe ich derzeit leider nicht.
Die Impfkampagne stockt derzeit – ursächlich sind nicht mehr fehlende Vakzine. Viele Menschen wollen sich schlicht nicht impfen lassen. Was schlagen Sie vor?
Man muss leider festhalten, dass die Informationskampagne der Bundesregierung vollständig gescheitert ist. Das fing schon mit den Debatten um die Vakzine von AstraZeneca an. Da wurden erst Zweifel gesät bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit. Dann wurden Altersempfehlungen ständig korrigiert.
Das setzte sich fort mit der leidigen Diskussion, ob Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren gegen SARS-CoV-2 geimpft werden sollen oder nur bestimmte Gruppen von ihnen. Die Vorteile einer Impfung gegen COVID-19 wurden generell zu wenig nach vorne gestellt. Appelle, sich impfen zu lassen, reichen nicht. Es braucht gezielte Aufklärung und klare Information. Das vermisse ich.
Und Impfprämien?
Das ist eine Möglichkeit. Aber das wäre ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Es braucht mehr niedrigschwellige Angebote fürs Impfen, wenngleich sich hier die Frage der Haftung stellt. Aber Impfungen vor Supermärkten oder Möbelhäusern halte ich generell für eine gute Sache. Eine Impfpflicht dagegen ist nicht zielführend – auch nicht für bestimmte Berufsgruppen wie Pfleger oder Lehrer.
Warum?
Entscheidend sind die 20 bis 25 Prozent Bundesbürger, die dem Impfen skeptisch oder unentschlossen gegenüberstehen. Die müssen wir erreichen. Eine Impfpflicht würde diese Menschen abschrecken und Vertrauen zerstören. Dasselbe gilt im Übrigen für eine indirekte Impfpflicht. Es kann nicht sein, dass Ungeimpften Alltägliches und selbstverständliche Grundrechte verwehrt werden. Zumal es Menschen gibt, die sich aus gesundheitlichen Gründen gar nicht impfen lassen können.