Barmer-Versorgungskongress
Unfaire Preise? Disput über Regulation für neue Wirkstoffe
Sind die Maßstäbe für die Bewertung neuer, hochpreisiger Wirkstoffe streng genug? Darüber gehen die Auffassungen auseinander: Die Barmer beklagt unklare Evidenz für den Zusatznutzen teurer Arzneien. Die Industrie sieht das anders.
Veröffentlicht:Berlin. Innerhalb von zehn Jahren haben sich die Jahrestherapiekosten von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen auf 152.000 Euro nahezu vervierfacht. Der Budgeteffekt für die Krankenversicherung sei dennoch moderat geblieben, weil inzwischen 40 Prozent der neuen Wirkstoffe Zielpopulationen von weniger als 1000 Patienten haben.
Dennoch, so der Gesundheitsökonom Professor Wolfgang Greiner (Uni Bielefeld) beim diesjährigen (virtuellen) Versorgungs- und Forschungskongress der Barmer, wachse die Sorge, ob Innovationen auch künftig noch finanzierbar und verfügbar sind. Zudem könnten ethische Dilemmata auftreten, wenn eine hohe Erwartungshaltung von Patienten trotz mitunter geringer Evidenz für den Nutzen und noch nicht abgeklärter Sicherheit existiert.
Nach Angaben von Professor Daniel Grandt, Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, sind die Kosten für Pharmakotherapie in der Onkologie je Patient von 6800 Euro im Jahr 2015 auf 9560 Euro im vergangenen Jahr gestiegen.
Preis losgelöst vom Ausmaß des Zusatznutzens
Vor allem bei Orphan Drugs habe man aber den Zusatznutzen häufig nicht quantifizieren können. Bei Onkologika, etwa solche gegen solide Tumore, gebe es keinen Zusammenhang zwischen Preis und Erstattungsbetrag sowie dem Ausmaß des Zusatznutzens.
Grandt beklagte die Monopolsituation für Innovationen und forderte eine strengere Missbrauchsaufsicht. Nach den weltweit führenden IT-Unternehmen weise die forschende Pharmaindustrie die höchsten Renditen auf.
Auch Ökonomen, so Grandt, sähen Probleme: Laut einer Umfrage unter 800 Wirtschaftswissenschaftlern halte nahezu jeder zweite Arzneimittelpreise für unfair. Notwendig seien Regulation, Wettbewerb und Kosten-Nutzen-Analysen.
Die Arzneimittelpreise seien – zumindest rückblickend – kein Problem für die GKV, so der Vorstand der Roche Pharma AG, Professor Hagen Pfundner. Der Ausgabenanteil liege seit Jahren nahezu konstant bei 15 Prozent, der der hochpreisigen Arzneimittel bei fünf Prozent der gesamten GKV-Ausgaben. Die Industrie habe überhaupt kein Interesse daran, die finanzielle Stabilität der solidarischen GKV-Finanzierung zu gefährden; sie sei de facto die wichtigste Refinanzierungsquelle für Innovationen.
Von 140 Unternehmen erhalten vielleicht fünf eine Erfolgprämie
Die Herausforderungen für die Industrie seien die hohen Forschungs- und Entwicklungsausgaben einerseits und die geringe Chance, eine echte Innovation zur Marktreife zu bringen. „Ich prognostiziere, dass von den 140 Unternehmen, die teils gemeinsam mit den Staaten Milliarden in die Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs investieren, am Ende vielleicht vier oder fünf erfolgreich sein werden. Und diese Unternehmen werden eine Erfolgsprämie erhalten.“
Ferner begründe der Patentschutz kein Monopol, betonte Pfundner, sondern nur eine zeitweilige Marktexklusivität, die davon abhängig sei, wie rasch Wettbewerb durch Folgeinnovationen entstehe. Tatsächlich bestehe Exklusivität derzeit im Schnitt für fünf Jahre und ende vor Ablauf des Patentschutzes und Eintritt in den generischen Wettbewerb.
Innovationen sind ethisch geboten
Der Münchner Medizinethiker Professor Georg Marckmann hält Innovationen für „ethisch geboten, weil sie Lebenschancen fördern“. Innovationen verursachten aber auch Opportunitätskosten und stünden in Konkurrenz zu anderen öffentlichen Ausgaben wie Bildung und innere Sicherheit.
Die durch Patentschutz entstehenden zeitweiligen Monopole hält Marckmann für begründbar, aber auch für Missbrauch anfällig. Das erfordere eine Regulierung und eine Debatte um angemessene Preise.
Aus diesen Gründen sei auch die Kosten-Nutzen-Bewertung als Ergänzung des AMNOG-Prozesses sinnvoll, um Maßstäbe für die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft zu finden. Ein solcher Maßstab müsse nicht starr sein, aber Signale setzen, die je nach konkreter Situation auch changieren könnten.
Neue Strategie bei der Markteinführung nötig
Das Vorstandsmitglied der Barmer, Dr. Rafi Manii, räumte ein, dass der Ausgabenteil für Arzneimittel am Gesamtbudget der GKV stabil geblieben ist. Er kritisierte jedoch die häufig mangelhafte Evidenz für einen Zusatznutzen von Innovationen bei einer ausgesprochen dynamischen Preisentwicklung vor allem seit 2015. Möglicherweise könnten die hohen Risiken der Arzneimittelforschung durch eine Bündelung der Aktivitäten gemindert werden.
Nachdrücklich plädierte Rafii für eine neue Strategie bei der Markteinführung neuer Wirkstoffe: Konzentration des Einsatzes auf hochkompetente Zentren, Zweitmeinungsverfahren, Studienbegleitung durch Einführung von Registern für einen beschleunigten und systematischen Wissensaufbau. GBA und IQWiG seien mit ihren Methoden auch die geeigneten Instanzen für Kosten-Nutzen-Bewertungen.