Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages
Verstößt Spahns Corona-Handlungsspielraum gegen die Verfassung?
Der Bundestag hat Verordnungsbefugnissen des Gesundheitsministeriums in Zeiten von Pandemien zugestimmt. Der Wissenschaftliche Dienst des Parlaments sieht „erhebliche“ Konflikte mit dem Grundgesetz.
Veröffentlicht:Berlin. Der Wissenschaftliche Dienst (WD) des Bundestages schätzt die weitreichenden Ermächtigungen, die der Bundestag Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit der Novelle des Infektionsschutzgesetzes zugestanden hat, als „erheblich problematisch“ ein. Der Dienst hat das in wenigen Tagen durchgepeitschte und am 28. März vom Bundestag beschlossene „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Auftrag der rechtspolitischen Sprecherin der Fraktion der Grünen Katja Keul analysiert. Teile der an das Gesundheitsministerium im Krisenfall übertragenen Befugnisse stellten „erhebliche Grundrechtseingriffe“ dar. Diese berührten sogar das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Grundgesetz, worauf der Gesetzgeber sogar selbst hinweise.
Als Beispiel führen die Autoren des Wissenschaftlichen Dienstes die mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes geschaffenen Möglichkeiten an, Arzneien ohne den üblichen Testvorlauf in Verkehr bringen zu können.
Sorge um Einschränkung der Verwaltungskompetenz der Länder
Dass der Gesundheitsminister „ohne Zustimmung des Bundesrates“ handeln könne, stößt ebenfalls auf „gewichtige Bedenken“. Auf der einen Seite könne der „vielgestaltige Sachverhalt“ des Infektionsschutzes schnelle Reaktionen und somit die Ermächtigungen rechtfertigen, räumt der Wissenschaftliche Dienst ein. Andererseits könne der Verordnungsgeber vom verfassungsrechtlichen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates zu Bestimmungen, die die Länder im Auftrag des Bundes ausführten, nicht abweichen.
Zudem seien die Folgewirkungen einer Verordnung des Gesundheitsministeriums auf weitere Rechtsverordnungen und ob damit nicht auch Rechte des Bundesrates berührt würden „abstrakt nicht zu klären“. Der WD sieht zudem mögliche Einschränkungen der Verwaltungskompetenzen der Länder. Grund sind die Anordnungsbefugnisse des Ministeriums, die „unbeschadet der Befugnisse der Länder“ gelten sollen. Ein solcher Vorbehalt sei in der Gesetzgebung nicht bekannt. Vermutet wird, dass die Anordnungskompetenzen der Länder damit beschnitten sein könnten. Das aber sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Rückendeckung von Verfassungsrechtlern
Die neue Anordnungsermächtigung für den Gesundheitsminister „unbeschadet der Befugnisse der Länder“ habe nach Einschätzung des WD entweder gar keinen Anwendungsbereich, weil die Länder nach dem Grundgesetz für die Ausführung des Infektionsschutzgesetzes zuständig sind oder sei gar verfassungswidrig, wenn sie die Länder auf den Vollzug von Anordnungen und Rechtsverordnungen beschränken wolle, sagte Katja Keul der „Ärzte Zeitung“. Die von den Grünen geforderte Beteiligung und Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates sei vor diesem Hintergrund eine Mindestanforderung.
Eine Reihe von Verfassungsrechtlern hat sich in der Diskussion um das Gesetz kritisch zu den weitreichenden Ausnahmen von der Norm geäußert, die der Bundestag im Pandemie- Falll dem Gesundheitsministerium zugestehen will. Sie hat der Wissenschaftliche Dienst als Zeugen für die Untiefen des Gesetzes angeführt. Die Verantwortung für die Freigabe unzureichend getesteter Arzneimittel könne nur der Bundestag übernehmen, wurde der Bonner Rechtswissenschaftler Professor Klaus Gärditz in den Medien zitiert. Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setze sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung.