Die Grenzen der Selbstoptimierung
Debatte um Krankheitstage – Gesundheit als Statussymbol?
Den ersten Krankheitstag nicht bezahlt bekommen – oder Feiertage nachholen dürfen? Im anrollenden Wahlkampf schlägt die Debatte um Arbeit und Freizeit hohe Wellen. Fachleute warnen vor neuer Stigmatisierung.
Veröffentlicht:Bremen. Vorsorge, Fitness, Wellness – für die eigene Gesundheit lässt sich viel tun. Allerdings zeigte in der vergangenen Woche eine Umfrage, dass nur ein gutes Drittel der Menschen in Deutschland regelmäßige Gesundheits-Check-ups wahrnimmt. Der Sportkurs kostet Zeit und Geld, ein Besuch im Wellness-Tempel noch mehr. Diese sozialen Gründe sind nicht die einzigen, weswegen Fachleute davor warnen, Gesundheit als Erfolgsmerkmal, gar als Statussymbol zu betrachten.
Auch die Gene beeinflussten schließlich die Entstehung vieler Krankheiten, gibt der Bremer Soziologe Friedrich Schorb zu bedenken. Er forscht zu „Healthism“, also der Idee, dass Gesundheit das höchste Gut sei und das Individuum dafür verantwortlich – durch Selbstfürsorge, Vorsorge, eine stetige Optimierung etwa von Ernährung, Bewegung oder auch mentaler Verfassung.
Auf die Menschen prasselten heute viele Tipps und Informationen rund um Gesundheit ein, sagt Schorb. Wer jedoch wozu Zugang habe, hänge stark von den Arbeits- und Lebensumständen ab.
Kritik an Debatte um Krankheitstage
Wenn Menschen sehr gesundheitsbewusst lebten, sei das „völlig in Ordnung“, betont der Forscher. Es sei jedoch kein Ersatz für gesundheitsfördernde Maßnahmen wie sauberes Wasser, saubere Luft, Abwasserentsorgung, Zugang zu Nahverkehr und Wohnraum – oder auch besseren Arbeitsbedingungen. Insbesondere in Kitas oder Pflegeeinrichtungen sind die Krankenstände hoch. „Das liegt sicher nicht daran, dass Leute blaumachen, sondern an widrigen Arbeitsbedingungen“, mahnt Schorb.
Die Forderung von Allianz-Chef Oliver Bäte, einen unbezahlten Karenztag einzuführen, sieht der Experte als „Scheindebatte“. Und: „Man sollte sich gut überlegen, ob man möchte, dass Menschen sich krank zur Arbeit schleppen.“
So habe Schweden auch deshalb viele Corona-Tote in Pflegeeinrichtungen verzeichnen müssen, weil der Karenztag dort erst im späteren Verlauf der Pandemie ausgesetzt worden sei. Eine Untersuchung der DAK hatte zuletzt gezeigt, dass der Rekordkrankenstand in Deutschland vor allem auf das elektronische Meldeverfahren zurückzuführen sei, durch das Krankmeldungen neuerdings lückenlos erfasst werden.
Für eine Wiederentdeckung der Freude
Auch jenseits der aktuellen Diskussion sieht Schorb ein Spannungsfeld, wenn es um das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit geht. Zudem drohten durch den Trend zur Selbstoptimierung mitunter Genuss und Freude verloren zu gehen – an Bewegung, frischer Luft oder auch gutem Essen. Er rät zu weniger Vergleichen und Selbstüberwachung, etwa via Smartwatch und Fitness-App.
Der Religionspsychologe Lars Allolio-Näcke sieht es ähnlich. „Wir müssten wieder entdecken, was uns Freude macht. Zum Beispiel zum Sport gehen, weil es gut tut – nicht, weil die Aufgabe lautet: sportlich sein!“
Der Psychiater Henrik Walter empfiehlt, sich auf die Tätigkeiten zu konzentrieren, die eher Energie spendeten als raubten. Die Menschen wüssten heutzutage zu viel darüber, was alles gut tun könne, sagte Walter kürzlich der „Welt“: Viele Ratgeber „tun so, als ob irgendjemand all das machen könnte, was da drin steht. Meiner Erfahrung nach schafft das kaum ein Mensch.“ Auch seien viele Ratgeber an gesunde Menschen gerichtet und ließen etwa Betroffene psychischer Erkrankungen außer Acht.
Ruf nach Spaß kann wiederum stressen
Schorb warnt zugleich vor neuem Stress, wenn nun auch noch die „Fitness-Joy-Balance“ optimiert werden müsse. „Das führt zu unauflöslichen Widersprüchen: Ich soll auf meine Gesundheit achten, mich um meine Karriere kümmern, aber auch um die Familie, soziale Kontakte pflegen, nicht so viel aufs Smartphone schauen – und bei alldem auch noch Spaß haben, ohne aber über die Stränge zu schlagen.“
Sinnvoll sei, sich klarzumachen, dass man all diese Anforderungen nicht erfüllen könne – und Prioritäten zu setzen. „Wenn jetzt aber verlangt wird, dass man das ganz locker und unverkrampft aus der Hüfte schütteln soll, dann ist das erst recht eine Überforderung.“ Denn, so Schorb: „Wir werden nicht zufriedener, solange wir perfektionistische Ansprüche haben.“ (KNA)