Elektronische Gesundheitsakten
Die Alternativen zur Gesundheitsplattform des Staates
Bleibt die Realisierung technischer Gesundheitslösungen dem Staat oder der Selbstverwaltung überlassen, arbeiten Ärzte weiter in Ruinen, meint unser Gastautor. Er plädiert für neue Ideen.
Veröffentlicht:Die Digitalisierung des Gesundheitssystems braucht eine elektronische Plattform, auf der sich alle treffen können. Eine derartige Plattform ist bereits heute kein Hinderungsgrund, ein digitales Gesundheitssystem mit affinen Ärzten, Patienten und zahlreichen anderen Beteiligten zu beginnen. Aber der technische Fortschritt verläuft in Medizin und Gesundheitswesen leider nicht im Gleichklang.
Auf der einen Seite gibt es ausgeklügelte Maschinen – bildgebende Verfahren, die Strahlenquellen und enorme Computerleistung in Geräten zusammenführen und selbst kleinste Metastasen orten. Oder Geräte zur hoch fokussierten stereotaktischen Bestrahlung, bei denen Computer die Strahlen lenken. Auf der anderen Seite die nationale Schmach des 15-jährigen Wartens auf eine einfache Neuerung wie eine elektronische Patientenkarte (ePA).
Nationale Schmach 15-jährigen Wartens auf die Gesundheitskarte
Technologischen Spitzenleistungen stehen überall dort jämmerliche Ruinen gegenüber, wo die Lösungen dem Staat oder der Selbstverwaltung der GKV überlassen sind. Bis zum Beweis des Gegenteils gilt dies auch für die jetzige Bundesregierung.
Betroffen ist der ganze Reigen des Paragrafen 291a SGB V vom E-Rezept über die Notfalldaten, den E-Arztbrief, die Arzneimitteltherapiesicherheit bis hin zur ePA. Vor allem Letztere ist es wert genauer hinzuschauen, warum diese Plattformtechnologie nicht schon lange installiert ist.
Digitale Plattformen sind immer das Herzstück erfolgreicher digitaler Dienstleistungen und Geschäftskonzepte. Nehmen wir etwa einen digitalen Musikvertrieb: Natürlich gibt es einen Katalog, in dem man nach der gewünschten Musik suchen kann. Aber es gibt auch ein Bestell- und Bezahlsystem, ein Bewertungssystem mit einem Forum für Musikliebhaber, das Zuspielen von Songtexten, passenden Videos und vieles mehr, was Musik zugänglicher macht. Üblicherweise sind es die Anbieter von bezahlbaren Leistungen, die eine große Kreativität entwickeln und beliebte Produkte schaffen, die auch hierzulande genutzt werden.
Auch ein digitales Gesundheitssystem braucht eine digitale Plattform. Auf ihr werden alle wesentlichen Kommunikationen und Sachverhalte digital repräsentiert, und somit für die weitere Kommunikation anschlussfähig sein. Die reale Welt wird in einer digitalen Welt gespiegelt sein.
Für die digitale Plattform verwenden wir heute Begriffe wie ePA oder elektronische Gesundheitsakte, aber diese Akten werden als Dokumentationen nur Teil einer Plattform sein. Die Plattform wird also mehr als eine elektronische Akte sein.
Sie wird der Ort sein, von wo aus Bürger und Patienten ihren Zugang zum Gesundheitssystem finden und steuern, wo sich ihre gesundheitlichen Transaktionen abbilden ebenso wie Daten und Befunde zu ihrem Gesundheitszustand. Digital affine Leistungserbringer und Patienten werden den Gebrauch dieser Plattform in ihren Alltag einbauen.
Eine starke Verbesserung des Informationsstandes über Gesundheit und die bisherigen Interventionen werden in Verbindung mit Verknüpfungsregeln zu einem enormen Zuwachs an Behandlungsqualität und einem Rückgang von Fehlerrisiko und Zeitverschwendung führen. Algorithmisierte Behandlungspfade, Services wie etwa Medikations-Management, Blutkontrollen, Arztsuche, Terminbuchung, Videokonsultation, Arzt-Chat und viele andere Funktionen sind auf dem Weg, dem Versicherten und Patienten angeboten zu werden. In einigen Jahren können auch komplexere medizinische Abläufe digital strukturiert sein.
Obwohl dies in toto noch Zukunftsmusik ist, hat sich auf dem Weg zu einer elektronischen Plattform bereits einiges getan. Nicht, dass die Leiche des Paragrafen 291a SGB V noch einmal zum Leben gefunden hätte, nein: Techniker Krankenkasse, AOK Nordost, DAK und eine ganze Reihe kleinerer Kassen, private Krankenversicherungen wie Allianz und Ottonova sind in einen Wettbewerb eingetreten und haben erste Showcases ins Netz gestellt, was einmal eine ausgewachsene Plattform werden könnte.
Ärzte im „Locked-in-Syndrom“?
Das ist die gute Botschaft: Jeder dieser Versicherer kann starten und ein digitales Gesundheitssystem aufbauen. In jeder dieser Lösungen finden sich gute Ansätze, die bereits heute deutlich über den Status quo hinausreichen. Etwa das Einspielen aller bisherigen ambulanten Abrechnungsdaten in „TK safe.“ Nutzer können damit rückwirkend nachlesen, bei welchem Arzt sie wann gewesen sind, und welche Leistungen und welche Diagnosen dokumentiert worden sind.
Obwohl es sich um „Metadaten“ handelt und Befunddaten fehlen, bildet sich hier das Grundgerüst der Geschichte der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems ab, das von den Betroffenen wie auch den Leistungserbringern genutzt werden kann: Wann wurde die Diagnose gestellt? Bei welchem Arzt? Was wurde verordnet? Welche Untersuchung durchgeführt? Bereits heute entsteht dadurch eine sehr viel größere Transparenz gegenüber dem Status quo, wo praktisch keine Informationen zur Patientengeschichte bereitstehen.
Dennoch bleiben große Baustellen, darunter die Anbindung der Praxisverwaltungssysteme der Ärzte. Fast kann man den Eindruck gewinnen, dass niedergelassene Ärzte durch ihre Systeme quasi in ein „Locked-in-Syndrom“ gezwungen werden: Kaum etwas geht rein, fast nichts geht raus. Einen Fortschritt könnte es geben, wenn eine „Open source“-Technologie die Anbindung an Plattformen und ePA erleichtert.
Professor Bertram Häussler ist seit 2016 Vorsitzender der Geschäftsführung des Berliner IGES Instituts.