Praxisnetz München West
Hier ist das E-Health-Gesetz schon Realität
Was mit dem E-Health-Gesetz bislang nur geplant ist, leben die Ärzte im Praxisnetz München West längst: Bei ihnen laufen Medikationsdaten, aber auch Diagnosen automatisch in der Praxissoftware von Mitbehandlern ein.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. "Wir haben immer noch zu viele Medienbrüche im Gesundheitswesen", sagt der Pneumologe Dr. Stefan Heindl.
Neben den Praxen, die bereits die EDV ausgiebig nutzen, gebe es nach wie vor viele Kollegen, die Arztbriefe per Fax oder Papier versenden, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Praxisnetzes München West und Umgebung.
Damit landen Informationen zur Diagnose in unterschiedlich schnellem Tempo bei Mitbehandlern. Einen Einblick in die Medikation erhalten die Kollegen indes oft gar nicht. Genau hier setzt das Vernetzungskonzept des Münchener Praxisnetzes an.
Von den 115 Mitgliedspraxen mit ihren 243 Ärzten sind immerhin 50 Praxen bereits direkt elektronisch vernetzt, bis Jahresende sollen es 70 sein. Dabei werden aktuelle Medikation, Diagnosen und Epikrise automatisch unter Behandlern ausgetauscht.
Zentralserver ist nicht nötig
Das Praxisnetz München West und Umgebung e.V.
2006 wurde das Praxisnetz, dessen Versorgungsgebiet (München-West) ca. 500 000 Einwohner umfasst, gegründet.
115 Praxen mit 243 Ärzten sind in dem Netz organisiert, 50 von ihnen sind bereits via EDV vernetzt. Als Vernetzungslösung kommt x.comdoxx zum Einsatz.
Seit 2009 hat das Netz einen Selektivvertrag (Add-on-Vertrag) mit der AOK Bayern, in den aktuell rund 6500 Patienten eingeschrieben sind.
Trotzdem gibt es nicht den einen Zentralserver, auf dem alle Patienteninfos abgelegt werden. Heindl: "Jede Praxis kommuniziert direkt mit der anderen Praxis."
Dabei werden die Daten über eine gesicherte Web-Verbindung - ein sogenanntes Virtual Private Network - übertragen.
Weil das Münchener Ärztenetz über die Grenzen von München hinaus Mitglieder hat, läuft die Anbindung sowohl über DSL- als auch ISDN-Leitung.
Zwischengeschaltet sei lediglich ein Key-Server, erklärt Netz-Geschäftsführer Christian Brucks. Dieser liefere den Schlüssel für den chiffrierten Datentransfer.
Allerdings mussten sich auch die Münchener Ärzte dem Problem der nach wie vor häufig inkompatiblen Arztsoftwareprogramme stellen.
Das Netz hat sich daher nicht nur für eine zusätzliche Netzsoftware, nämlich x.comdoxx des Software-Anbieters medatixx, entschieden.
Sie sind auch auf eine einheitliche Praxissoftware umgestiegen, damit die Daten unkompliziert direkt in die Patientenakte einlaufen können.
Zwar bietet medatixx für die Netzsoftware eine offene Schnittstelle, das bedeutet jedoch, dass die anderen Praxissoftware-Anbieter ihre Systeme an x.comdoxx anbinden müssten.
"Wir wissen natürlich, dass man mit solchen Lösungen ein Monopol schafft", so Heindl. Doch da in Sachen Interoperabilität noch immer eine klare Richtlinie vonseiten der KBV fehle, bleibe dem Netz kaum eine andere Möglichkeit.
Auch wenn es manche Praxis - je nach ihrer bisherigen technischen Ausstattung und der Zahl der vorhandenen EDV-Arbeitsplätze - einmalig zwischen 2000 und 20.000 Euro gekostet hat und insgesamt im Netz 110 EDV-Schulungen vor Ort in den Praxen nötig waren, wie Brucks berichtet, das System überzeugt.
Denn die Praxen sehen direkt in ihrer Software bzw. elektronischen Patientenakte, welche Infos von außen eingelaufen sind. Jede Fremdmedikation und jeder Fremdbefund ist mit einem "F" markiert.
Eine "Weltkugel" hinter einem eigenen Eintrag zeigt dem Arzt zudem, welche Daten automatisiert ausgetauscht werden. Heindl demonstriert, wie sich alle Fremdbefunde mit wenigen Mausklicks in einen eigenen Reiter legen lassen.
Doppelter Datenschutz
Datenschutzrechtlich hat sich das Netz dabei doppelt abgesichert. Grundlage für die Vernetzung ist zwar ein Selektivvertrag mit der AOK Bayern, der als Add-on-Vertrag mit speziellen Vorsorgeleistungen läuft.
Doch auch nicht AOK-Patienten können zumindest an der vernetzten Kommunikation der Ärzte teilnehmen. In beiden Fällen müssen die Patienten ihr Einverständnis zum Datenaustausch geben. Die entsprechenden Formulare sind jeweils über einem Button in der Praxissoftware hinterlegt.
Interessant ist hierbei, dass im Statusmenü der jeweiligen Patientenakte dem Arzt immer per Farbskala angezeigt wird, ob der Patient schon an der Vernetzung teilnimmt oder nicht.
"Gelb" bedeutet etwa, dass der Patient sich bereits in einer anderen Praxis eingeschrieben hat - der Datenaustausch findet aber immer nur dann statt, wenn sich der Patient auch beim Arzt vor Ort noch einmal einschreibt.
Geschieht dies, wechselt der Status auf "Grün" und der Arzt kann die Daten aus den anderen Praxen erhalten. Damit bleibt die Datenhoheit beim Patienten, der auch innerhalb des Ärztenetzes frei entscheidet, welcher Arzt die Infos anderer Mitbehandler sehen darf.
Schnellere Dokumentation
Welche Daten in den automatischen Transfer einfließen, bestimmt dabei der Netzausschuss, so Heindl. Die Ärzte können die Netzsoftware aber noch an anderer Stelle für ihre Belange anpassen.
"Wir haben innerhalb des Ärztenetzes derzeit sieben interne Leitlinien", berichtet Hausarzt und Netz-Vorstandsvorsitzender Dr. Bernd Matzner.
Zwei dieser Behandlungspfade - zu COPD und Vorhofflimmern -, die sich an evidenzbasierten Leitlinien orientieren, sind bereits in die Software eingepflegt.
Eine Arbeit, die das Netz über den Workflow-Manager der Software selbst übernehmen konnte. "Damit ist innerhalb von acht Minuten eine leitliniengerechte Behandlung und Dokumentation möglich", sagt Heindl.
Am Beispiel COPD zeigt er, wie es funktioniert. Die Ärzte haben auf ihrem Bildschirm drei Fenster: In einem sehen sie die Leitlinie in Textform, in dem mittleren Fenster als Flussdiagramm und im rechten Fenster erscheint ihre Dokumentation.
Wenn sie sich etwa durch das Flussdiagramm klicken, erscheinen zu einzelnen Anamnese- und Behandlungsstadien Dropdown-Menüs, mit Textbausteinen, die sie bei der Dokumentation unterstützen.
Selbst die Überweisung an einen anderen Facharzt lässt sich direkt aus dem Behandlungspfad heraus erstellen.
Immer möglich ist laut Matzner der zusätzliche manuelle Versand von Behandlungsdaten - etwa von Laborparametern. Dies erfolgt dann an einen zuvor ausgewählten Arzt - damit erhält auch nur dieser, ähnlich wie beim elektronischen Arztbrief, die Infos.
Der Plan: Ein ARMIN für Netze
Schnelle Arzttermine sind im Münchener Praxisnetz übrigens kein Problem, weshalb ein gemeinsamer elektronischer Arztkalender auch bei den EDV-Funktionen erst einmal nach hinten gestellt wurde.
Da die Ärzte über die Netzsoftware direkt miteinander kommunizieren können, würden die Patienten in der Regel innerhalb einer Woche oder schneller einen Facharzttermin erhalten, so Heindl.
Für die Zukunft hat sich das Netz vorgenommen, das Thema Polypharmakotherapie zusammen mit Kliniken und Apotheken anzugehen. Heindl: "Wir wollen im Netz eine Wirkstoffverordnung erreichen."
Ihm schwebt ein ARMIN für Netze nach dem Vorbild des Modellprojekts zur Wirkstoffverordnung in Thüringen und Sachsen (ARMIN) vor. "Wir haben in diesem Jahr auch eine Vergütung für die Pharmakotherapie-Beratung", so Heindl weiter.
Außerdem steht die EDV-Vernetzung mit Kliniken an. Hier könnte nicht nur der Notfalldatensatz untereinander ausgetauscht werden.
Über eine entsprechende Schnittstelle könnte der Arzt in der Praxis so künftig auch sehen, auf welcher Station der Patient in der Klinik gerade ist.
Das Klinikum in Pasing, das von Rhön an Helios gegangen ist, hat damit schon Erfahrung, wie Heindl berichtet, denn Rhön hatte seine MVZ ja bereits an die Klinik-IT angebunden.
Ein klarer Vorteil des Netzes ist laut Brucks, dass ein Teil des Budgets aus dem Selektivvertrag für die Vernetzung der Praxen genutzt werden kann. "Das ist einmalig", sagt er.
Das Ärztenetz hat allerdings auch ein Versorgungsgebiet, das eine halbe Million Einwohner umfasst.