Zu viele Infarkte
Deutsche ernähren sich schlecht
Tödliche Infarkte und Schlaganfälle durch schlechte Ernährung: Deutschland nimmt hier unter den Ländern mit westlichem Lebensstil einen traurigen Spitzenplatz ein.
Veröffentlicht:Das Wichtigste in Kürze
Frage: Welchen Anteil hat eine ungesunde Ernährung an den kardiovaskulären Sterbefällen?
Antwort: Jeder zweite tödliche Herzinfarkt oder Schlaganfall in Europa lässt sich nach einer WHO-Analyse auf eine ungesunde Ernährung zurückführen, insgesamt ist rund jeder vierte Sterbefall durch ein ernährungsbedingtes kardiovaskuläres Ereignis bedingt.
Bedeutung: Eine gesunde Ernährung könnte die Lebenserwartung der Bevölkerung deutlich verlängern.
Einschränkung: Daten beruhen auf retrospektiven Analysen, Ernährung lässt sich nur schwer von anderen Lebensstilfaktoren trennen.
HALLE/SAALE. Es klingt wie ein schlechter Witz: Nach einer aktuellen Umfrage halten 91 % der Deutschen gesunde Ernährung für wichtig, 71 % essen täglich Obst und Gemüse, nur rund ein Viertel konsumiert jeden Tag Fleisch, Wurst und Süßes.
Würde dies auch nur ansatzweise stimmen, dürfte es eines sicher nicht geben: einen Spitzenplatz bei den kardiovaskulären Todesfällen, die auf ungesunder Ernährung beruhen.
Während die meisten Bürger in oberflächlichen Befragungen offensichtlich Wunsch und Wirklichkeit verwechseln, wertet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihren regelmäßigen Erhebungen zur Studie „Global Burden of Disease“ (GBD) sämtliche verfügbaren Daten zur Entwicklung von Krankheiten und zu Todesursachen aus.
In einer aktuellen WHO-Analyse hat ein Team um Dr. Toni Meier vom Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften in Halle/Saale den Anteil der Ernährung an den kardiovaskulären Sterbefällen für 51 Länder der WHO-Region Europa berechnet (European Journal of Epidemiology 2019;34:37–55). Zu dieser Region zählen auch Russland und die ehemaligen Sowjetstaaten.
Jeder zweite tödliche Infarkt durch ungesunde Ernährung
Die Forscher berücksichtigten neben detaillierten Ernährungsbefragungen in den einzelnen Ländern auch die Produktions- und Handelsströme von Agrargütern sowie Konsumdaten.
Daraus konstruierten sie Ernährungsprofile und korrelierten sie mit dem Wissen aus prospektiven Kohortenstudien oder klinischen Interventionsstudien, indem sie für zwölf wichtige Nahrungsfaktoren ein minimales Risikoniveau berechneten.
So wird in Studien etwa die geringste kardiovaskuläre Mortalität bei einer täglichen Ballaststoffaufnahme von 19 bis 28 Gramm beobachtet, an Obst sind dazu 200 bis 300 Gramm und an Gemüse 50 bis 70 Gramm erforderlich.
Entsprechende Werte kalkulierten sie für Natrium, Transfettsäuren, verarbeitetes Fleisch, Nüsse und Samen, Omega-3-Fettsäuren oder mehrfach ungesättigte Fettsäuren.
Mit solchen Werten verglichen sie das Ernährungsprofil in den einzelnen Ländern und berechneten anhand der Abweichungen den Anteil der kardiovaskulären Sterbefälle, der sich auf eine Fehlernährung mit den jeweiligen Nahrungsbestandteilen zurückführen ließ.
Die Forscher setzen dabei eine kausale Beziehung zwischen kardiovaskulärer Mortalität und den Ernährungsweisen voraus, diese ist jedoch meist nicht klar belegt, weshalb die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind.
Große Unterschiede zwischen den Ländern
Nach den Resultaten von Meier und Mitarbeitern lassen sich unter diesen Vorgaben in der Region Europa im Jahr 2016 rund 2,1 Millionen Todesfälle auf Herzkreislauferkrankungen zurückführen, die durch eine ungesunde Ernährung verursacht wurden.
Damit würde jeder zweite Todesfall infolge von Herzinfarkt oder Schlaganfall von einer schlechten Ernährungsweise herrühren, und fast jeder vierte Todesfall insgesamt (22 %). Eine ungesunde Ernährung scheint das Leben vieler Europäer also deutlich zu verkürzen.
Allerdings gibt es bei diesen Anteilen große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, auffällig ist vor allem ein klares Ost-West-Gefälle: In Osteuropa sind knapp 60 % aller Todesfälle kardiovaskulär bedingt, in Westeuropa beträgt der Anteil gerade einmal 30 %.
Der von den Forschern um Meier berechnete Anteil der Ernährung an den Todesfällen ist jedoch ähnlich hoch und liegt bei etwa der Hälfte: In Osteuropa sterben entsprechend 32 %, in Westeuropa 14 % aller Menschen an kardiovaskulären Ereignissen, die durch eine ungesunde Ernährung bedingt sind.
Hohe Rate in Griechenland
Unter den westeuropäischen Ländern gibt es ebenfalls eine große Bandbreite: An der Spitze stehen Griechenland (wird in der Studie zu Westeuropa gezählt) mit 20,2 %, Finnland mit 19,4 % sowie Deutschland (17,9 %) und Österreich mit 18,4 % ernährungsbedingten kardiovaskulären Todesfällen (siehe nachfolgende Grafik).
Dagegen sterben in Israel – das von der WHO ebenfalls zu Westeuropa gezählt wird – nur 9,8 % auf diese Weise. Jeweils rund 11 % sind es in Frankreich (11,4 %), Dänemark (11,1 %), Spanien (10,7 %) und den Niederlanden (11,0 %). Werden altersadjustierte Angaben verwendet, ändert sich wenig an der Reihenfolge.
Nach den Berechnungen von Meier und Mitarbeitern sterben in Deutschland jedes Jahr 165.000 Menschen vorzeitig durch ernährungsbedingte kardiovaskuläre Komplikationen – die mit Abstand höchste Zahl in Westeuropa (164.639 im Jahr 2016).
Immerhin zeigt sich in den meisten Ländern über die Zeit ein Rückgang der ernährungsbedingten kardiovaskulären Sterbefälle. So lag deren Anteil an den Todesfällen in Deutschland 1990 noch bei rund 27 % und damit neun Prozentpunkte höher als heute. Der Rückgang wurde zuletzt aber in den meisten Ländern deutlich gebremst.
Größtes Problem: Wenig Vollkorn
83 % der ernährungsbedingten kardiovaskulären Sterbefälle gehen nach den WHO-Daten auf das Konto von Herzinfarkten, der überwiegende Rest auf das von Schlaganfällen. Als wichtigsten Einzelfaktor sehen die Studienautoren eine Diät mit wenig Vollkorn – darauf entfallen ihren Kalkulationen zufolge 20 % der ernährungsbedingten kardiovaskulären Sterbefälle.
Es folgt eine Ernährung mit wenig Nüssen (16 %), wenig Obst (12 %), viel Natrium (12 %) und wenig Omega-3-Fetten (11 %). Kaum ins Gewicht fallen dagegen Ernährungsweisen mit viel verarbeitetem Fleisch, Transfettsäuren oder zuckerhaltigen Getränken.
Interessant ist noch eine andere Zahl: Etwa 20 % aller ernährungsbedingten kardiovaskulären Sterbefälle erfolgen in Westeuropa vor dem 70. Lebensjahr. Zwischen 2010 und 2016 ist die Zahl solcher relativ frühen Todesfälle allein in Deutschland um 2700 angestiegen – absolut betrachtet mehr als in jedem anderen Land zwischen Island und Kaukasus.
Anhand ihrer Analyse gehen die Forscher um Meier davon aus, dass eine gesunde Ernährung mehr kardiovaskuläre Todesfälle verhindern könnte als alle anderen Lebensstiländerungen. Allerdings lässt sich das häufig nur schwer differenzieren: Es sind oft dieselben Personen, die ungesund essen, viel rauchen und sich wenig bewegen. (Mitarbeit: ajo)