Im Operationssaal
Videobrille lenkt von Op-Angst ab
Angst vor der Operation oder einem invasiven Eingriff, etwa mit dem Herzkatheter? Mit der HappyMed-Videobrille erleben Patienten die Behandlung entspannter, benötigen weniger Narkosemittel und das Personal wird entlastet, zeigen erste Evaluationen.
Veröffentlicht:BERLIN. Es war die Angst vor dem Zahnarzt, die erfinderisch gemacht hat. Philipp Albrecht, der Erfinder und Gründer des Start-ups HappyMed, musste vor Jahren eine langwierige und schmerzhafte Zahnwurzelbehandlung über sich ergehen lassen – und hätte sich eine Ablenkung von den Nebenwirkungen gewünscht.
So kam er zusammen mit seinem technischen Mitgründer Florian Fischer auf die Idee, neuartige Videotechnologien zu nutzen und eine Spezialbrille zu fertigen, die der Patient vor, während und nach einer belastenden Intervention tragen kann.
Integriert in die Brille ist ein breites Programm aus Spiel- und Naturfilmen, Dokumentationen und Musik, aus dem der Patient, sobald die Op-Vorbereitung beginnt, auswählen kann. Patienten werden damit audiovisuell von ihrer Umgebung entkoppelt, angsteinflößende Sinneseindrücke treten in den Hintergrund.
Wartezeiten, die bei der Vorbereitung zu einer Op immer wieder auftreten können, werden überbrückt, ohne dass der Patient all seine Gedanken auf den bevorstehenden Eingriff fokussiert.
Auch für Kleinkinder geeignet
Start-up-Steckbrief
- Innovation: Videobrille zur Entspannung des Patienten bei medizinischen Interventionen; Medizinprodukt der Klasse I
- Einsatzmöglichkeiten: Bei Op, insbesondere mit Lokalanästhesie, Herzkatheter-Interventionen, Op-Vorbereitung und in der Aufwachphase sowie bei Dialyse und Chemotherapie
- Evaluation: Studien zeigen deutlich entspannende Effekte beim Patienten, ermöglichen eine Reduktion der Schmerzmedikation sowie eine entlastende Wirkung beim Pflegepersonal.
- Unternehmen: HappyMed GmbH, Praterstraße 1/27, 1020 Wien, www.happymed.org, 20 Mitarbeiter
- Gründer: Philipp Albrecht (30), kaufmännische und vertriebliche Leitung, und Florian Fischer (30), technische Leitung
Der Ablenkungseffekt funktioniert, berichtet Andrea Koselowsky, Anästhesie-Pflegerin und Betriebswirtin im Unfallkrankenhaus Berlin (UKB). Dieses setzt die Videobrille seit eineinhalb Jahren bei Op und Herzkatheter-Interventionen ein.
Auch für Kinder ab vier Jahren, auf die die Umgebung eines Operationstrakts besonders furchteinflößend wirkt, hat die Videobrille eine angstreduzierende Wirkung, so Koselowsky.
Die Einsatzmöglichkeiten der Videobrille sind vielfältig: Sie reichen von kurzzeitigen, aber angstbesetzten Eingriffen beim Zahnarzt bis hin zu längeren Op unter Teilnarkose.
Die Videobrille verkürzt subjektiv die Zeit bei Chemotherapien und Dialyseverfahren, aber auch im Aufwachraum nach der Op.
HappyMed wird seit 2013 zunächst in einzelnen Kliniken in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz eingesetzt. Inzwischen liegen verschiedene Evaluierungen vor, so dass es für die medizinischen Effekte eine Evidenz gibt.
- Anfang 2017 wurde an drei Standorten der Sana-Kliniken eine systematische Evaluation mit 110 HappyMed-Patienten durchgeführt, die unter Regional- oder Vollnarkose operiert wurden. 92 Prozent der Patienten waren mit den Effekten der Videobrille zufrieden und würden diese bei einem erneuten Eingriff wieder nutzen oder anderen Patienten empfehlen. Bei einem Drittel der Patienten konnte auf eine zusätzliche Sedierung verzichtet werden.
- In einer 2016 in einem geriatrischen Pflegekrankenhaus in Wien durchgeführten Studie wurde festgestellt, dass die Nutzung der Videobrille bei Patienten mit diagnostizierten Schlafstörungen die subjektive und objektive Schlafqualität so weit verbessern kann, dass die Dosierung der Schlafmedikation reduziert werden konnte.
- In einer kleinen, aber randomisiert und kontrolliert durchgeführten Pilotstudie mit 14 Patienten mit chronischen Schmerzen, die eine Elektrotherapie erhielten, wurde gezeigt, dass der Einsatz der Videobrille zu einer über die übliche Therapie hinausgehenden Schmerzfreiheit führt.
- Eine Evaluation mit 55 Patienten am Helios-Klinikum in Erfurt zeigte, dass eine 52 Minuten dauernde Operation von den Patienten, die eine Videobrille trugen, subjektiv im Schnitt auf 24 Minuten geschätzt wurde.
Derzeit werden laut Albrecht mehrere randomisierte kontrollierte Studien in der orthopädischen Chirurgie und der Schmerztherapie mit insgesamt 300 Patienten durchgeführt. Weitere Studien zum Einsatz der Brille in der Chemotherapie, bei elektrophysiologischen Untersuchungen und bei Schrittmacher-Implantationen seien in Vorbereitung.
Ärzte empfehlen Verwendung
Ärzte beurteilen den Nutzen positiv. „Patienten werden hervorragend abgelenkt und sind merkbar entspannter. Außerdem können Medikamente zur Sedierung durch den Einsatz von HappyMed wesentlich eingespart werden“, berichtet Professor Jochen Strauß, Chef-Anästhesiologe am Helios-Klinikum Berlin-Buch.
Bei Transkatheter-Aortenklappenimplantationen empfehlen Ärzte die Verwendung der Videobrille in 88 Prozent der Behandlungsfälle weiter.
Die Videobrille wird ausschließlich vermietet, die monatlichen Kosten je Brille liegen zwischen 150 und 200 Euro. Ein Kauf ist nicht möglich. Grund dafür ist das komplexe Verfahren zur Zahlung der Lizenzgebühren für die audiovisuellen Inhalte, das zentral von der HappyMed GmbH organisiert wird.
Die Inhalte werden regelmäßig – bei Nacht – aktualisiert und erweitert. Beim Einsatz selbst gibt es keine Verbindung zum Internet. Neben den medizinischen Vorteilen entstehen für das Krankenhaus potenziell positive ökonomische Effekte: tendenziell sinkende Medikationskosten, vor allem aber eine Entlastung des Pflegepersonals bei der Op-Vorbereitung sowie im Aufwachraum.