Aggressionen haben oft simple Ursachen
Nicht Gedächtnisstörungen, sondern Aggressionen oder Depressionen belasten Demenzpatienten und ihre Angehörige am stärksten. Wer weiß, weshalb die Patienten solche Verhaltensprobleme entwickeln, hat oft schon den Schlüssel zur Lösung in der Hand.
Veröffentlicht:FRANKFURT/MAIN. Ein Patient mit frontotemporaler Demenz zeigt trotz medikamentöser Therapie schwere Aggressionen: Er reißt im Pflegeheim die Fliesen von der Wand, schlägt Fenster und Türen ein - die Betreuer wissen sich kaum noch zu helfen, berichtet Dr. Torsten Kratz vom Königin-Elisabeth-Herzberge-Krankenhaus in Berlin.
Für Aggressionen gibt es oft nachvollziehbare Gründe
Von der Ehefrau erfährt der Gerontopsychiater, dass der Mann sich früher gerne handwerklich beschäftigte: Fliesen legen bei den Nachbarn, das Dach selbst ausbauen. Dabei war er äußerst penibel und konnte es nicht ausstehen, wenn irgendetwas schräg oder ungenau war, aber das war offenbar im Pflegeheim der Fall. Da sich der Mann über den in seinen Augen handwerklichen Pfusch aufregte, dies aber nicht mehr äußern konnte, wurde er aggressiv. Die Lösung: Kratz schloss einen Vertrag zwischen dem Patienten und dem Hausmeister des Pflegeheims. Nun läuft der Patienten jeden Tag mit dem Hausmeister durch die Anlage und sagt, was nicht in Ordnung ist und was gemacht werden muss - seither ist er wesentlich ruhiger. "Der Patient hat jetzt eine Aufgabe, er ist jetzt wer", so Kratz auf einer Veranstaltung von Janssen-Cilag in Frankfurt am Main. Das Beispiel illustriere, wie wichtig es ist, die Biografie der Patienten genau zu kennen, so der Psychiater. Dadurch kann man die Patienten adäquat beschäftigen, ohne sie zu über- oder unterfordern.
Oft werde jedoch bei einem aggressiven Patienten primär die Frage, gestellt: Mit welchen Medikamenten kann ich ihn ruhig stellen? "Das ist jedoch die falsche Frage. Zuerst sollte ich fragen: Warum ist der Patient aggressiv?", so Kratz. Dafür gibt es, ebenso wie für andere Verhaltensauffälligkeiten, sowohl biologische, somatische als auch psychologische Gründe. Zu den biologischen zählt Kratz etwa Neurotransmitterstörungen infolge der Hirndegeneration. So kann ein Dopaminüberschuss in bestimmten Hirnregionen Wahnsymptome begünstigen, der bei Demenzpatienten häufig auftretende Serotoninmangel fördert dagegen Depressionen und Apathie.
Auch die Demenzform beeinflusst die Symptome. Patienten mit frontotemporaler Demenz sind häufig stark enthemmt. Versucht man, diese Enthemmung zu bremsen, werden sie aggressiv. Bei vaskulärer Demenz führt eine starke Affektlabilität oft zu Aggressionen, bei Alzheimer-Demenz sind es häufig Wahnsymptome: Patienten, die glauben, sie werden vergiftet, wehren sich entsprechend gegen die Medikamenten- und Nahrungsaufnahme.
Häufigster somatischer Grund für Verhaltensstörungen sind dagegen Schmerzen. Demenzpatienten können meist nicht mehr äußern, dass es und wo es ihnen weh tut. Kratz nannte als Beispiel eine schwer aggressive Frau, zu der er gerufen wurde. Ihm fiel ihr schleppender Gang auf. Der Grund für ihre Aggressionen: ein bisher unbemerkter Oberschenkelhalsbruch. Auch eine Nahrungsverweigerung kann somatisch bedingt sein, etwa durch eine Gastritis, durch Zahn- oder Kieferschmerzen. "Es lohnt sich, mal die Zahnprothese rauszunehmen", so der Gerontopsychiater. Nicht selten verberge sich darunter eine schwere und schmerzhafte Entzündung.
Bei Schlafstörungen kommen als somatische Ursachen etwa eine dekompensierte Herzinsuffizienz oder nächtliche Hypoglykämien infrage. Selbst Wahnsymptome haben mitunter einen einfachen Grund: Ist die Batterie im Hörgerät leer oder die Brille ungeeignet, reimen sich Demenzpatienten aus den fehlerhaften Wahrnehmungen einfach etwas zusammen. Es lohnt sich also, bei Verhaltensstörungen immer auch nach somatischen Ursachen zu fahnden.
Wer Demenzpatienten nicht ernst nimmt, verärgert sie
Viele Verhaltensprobleme lassen sich damit jedoch nicht erklären, sondern eher psychologisch begründen - sie entstehen meist als Reaktion auf die eigenen Unzulänglichkeiten der Patienten und das Verhalten der Umgebung. So suchen Demenzpatienten für ihre Defizite nach plausiblen Erklärungen. Bei einem stark eifersüchtigen Mann im frühen Demenzstadium war das Problem, dass er seinen Hausschlüssel immer wieder verlegte. Er glaubte, seine Frau habe ihm den Schlüssel weggenommen, um ihn zu Hause einzuschließen, damit sie zu einem anderen Mann gehen könne. Auch wenn Angehörige im Beisein der Patienten nicht mit ihnen, sondern über sie reden, oder sie bedrängen, sie sollen sich doch zusammenzureißen, dann treten ebenfalls Aggressionen auf - und noch viel häufiger Depressionen und Apathie, so Kratz. Eine entsprechende Psychoedukation von Angehörigen und Betreuern, in der über die Erkrankung informiert und ein entsprechender Umgang mit Demenzkranken trainiert wird, könne oft schon Wunder wirken.
Doch selbst wenn man alle möglichen Gründe für Verhaltensstörungen eruiert, wird man sie nicht immer ohne Medikamente lindern können. Wichtig sei zunächst eine Basistherapie mit Antidementiva, diese Mittel haben in Studien auch Verhaltensprobleme reduziert. Werden gegen Depressionen Arzneien gegeben, sollte man auf Trizyklika unbedingt verzichten, da diese das cholinerge Defizit noch verstärken, sagte Kratz. Von den hoch potenten Neuroleptika ist Risperidon gegen Verhaltensstörungen bei Alzheimer-Demenz zugelassen, und zwar dann, wenn nicht-medikamentöse Verfahren fehlschlagen und ein hohes Risiko für Eigen- und Fremdgefährdung besteht. Kratz empfahl jedoch, Neuroleptika eher zurückhaltend und zeitlich begrenzt anzuwenden, da viele der Mittel das kardio- und zerebrovaskuläre Risiko bei Demenzpatienten erhöhen.
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