Ungewöhnliche Fälle
Borderline und Psychosen "heilen" mit Antiepileptika
Manche psychisch Kranken brauchen keine Neuroleptika, sondern Antikonvulsiva. Tauchen im EEG bestimmte Muster auf, ist das ein Hinweis auf eine paraepileptische Psychose. Mit Antiepileptika verschwinden die Symptome oft vollständig
Veröffentlicht:BERLIN Es sind dramatische Beispiele die Professor Ludger Tebartz van Elst auf dem Welt-Psychiatrie-Kongress in Berlin vorgestellt hat: Eine Schülerin entwickelt im Alter von 15 Jahren plötzlich ein Borderline-Syndrom mit Dissoziation, Wahrnehmungsveränderungen, einer starken inneren Anspannung, Alpträumen, Cannabiskonsum sowie chronischen Suizidgedanken und vor allem extrem selbstverletzendem Verhalten. Immer wieder ritzt und schneidet sie sich selbst oder schlägt ihren Kopf gegen die Wand. Sie wird 13-mal stationär aufgenommen und muss dabei jedes Mal lange fixiert werden, weil sie sich sonst schwere Verletzungen zufügt. Die Anamnese ergibt jedoch keine psychischen Traumata oder psychosozialen Probleme in der Vorgeschichte, erläuterte der Psychiater vom Uniklinikum Freiburg im Breisgau. Letzteres passt mit dem schweren Verlauf jedoch nicht richtig zusammen. Die Ärzte veranlassen schließlich eine umfangreiche Diagnostik mit EEG, MRT und Liquoranalyse, um nach organischen Ursachen zu fahnden. Man müsse sich immer wieder vor Augen führen, dass die klinische Psychopathologie unspezifisch sei und letztlich keine Ursachen dingfest machen könne, erläuterte Tebartz van Elst.
Fündig werden die Ärzte schließlich beim EEG: Hier sehen sie eine rhythmische Thetaaktivität (Intermittent Rhythmic Theta Activity, IRTA): Eine Sekunde lang kommt es zu generalisierten 5-Hz-Spike-Wave-Signalen, dann ist das EEG wieder weitgehend normal. Im MRT finden sich keine klaren Auffälligkeiten, ein Neuroradiologe will eine verkleinerte Amygdala erkennen, ein anderer sieht dagegen keine signifikanten Abweichungen.
Valproat stoppt "Borderline-Anfälle"
Das Team um Tebartz van Elst geht dem Phänomen noch weiter auf den Grund, veranlasst eine umfangreiche EEG-Analyse und kombiniert die Daten mit fMRT-Bildern. Damit wollen die Ärzte herausfinden, ob sich ein Ursprung der Signale lokalisieren lässt. Tatsächlich korreliert die IRTA mit der fMRT-Aktivität in der linken Amygdala, im linken Hippocampus, im rechten oberen Frontallappen und im rechten Gyrus dentatus. "Wir dachten nun an eine Epilepsie, die bisher vielleicht unbemerkt geblieben ist. Möglicherweise handelte es sich um Anfallssignale, die nicht bis zur Oberfläche durchdringen und im EEG daher kaum erfasst werden", erläuterte der Psychiater.
Die Patientin wird zur Videotelemetrie an Epileptologen überstellt. Dort finden die Ärzte unter Valproat deutlich weniger pathologische EEG-Signale. Als sie das Antikonvulsivum wieder absetzten, steigt deren Zahl drastisch an und 24 Stunden später entwickelt die junge Frau erneut einen schweren "Borderline-Anfall", bei dem sie versucht, ihren Schädel zu zertrümmern. Sie muss daraufhin zwei Wochen lang fixiert werden.
Die Ärzte behandeln daraufhin mit Valproat und die Borderline-Anfälle verschwinden komplett. Die junge Frau kann ihr Abitur mit der Note 1,4 abschließen und ein Studium beginnen. Dreimal versucht sie, die Antikonvulsiva abzusetzen, jedes Mal kommt es zu einem Rückfall. Die Ärzte wechseln von Valproat über Topiramat schließlich zu dem besser verträglichen und weniger teratogenen Levetiracetam. Alle drei Mittel können die Symptome zuverlässig unterdrücken.
Den Therapiestart mit Valproat begründete Tebartz van Elst mit dem breiten Wirkspektrum und der bei Epilepsien bislang unübertroffenen Wirkstärke. Man habe angesichts der schweren Symptome mit dem wirksamsten Medikament beginnen wollen. Der Neurologe wies jedoch darauf hin, dass die Patientin per Definition keine Epilepsie habe, da keine Konvulsionen oder Absencen auftraten, vielmehr handele es sich hier um eine paraepileptische Störung.
50 kg Gewichtszunahme durch Fehlbehandlung
Solche Störungen können auch zu ganz anderen psychischen Symptomen führen. Der Psychiater berichtete von einem 17-jährigen Jugendlichen, der immer wieder Stimmen gehört hat und aufgrund einer paranoiden Symptomatik in die Psychiatrie überstellt wurde. Auch hier zeigten sich im EEG epilepsietypische Spike-Wave-Komplexe, obwohl es keine dokumentierten Anfälle gab. Mit Antiepileptika konnte auch dieser Patient bald symptomfrei entlassen werden. Statt von einer Schizophrenie gingen die Ärzte hier ebenfalls von einer paraepileptischen Psychose aus.
Eine solche Diagnose stellten sie auch bei einem 14-jährigen Mädchen, das zunächst als Schizophreniepatientin behandelt wird. Auffällig ist eine Gelenkentzündung sechs Wochen vor Beginn der Symptome. Klinisch präsentiert sie eine typische Psychose mit Wahnvorstellungen und Stimmen. Sie wird insgesamt fünfmal stationär behandelt, einmal über ein Jahr lang. Sämtliche Ärzte bescheinigen ihr eine Schizophrenie und geben ihr diverse Antipsychotika, wobei sie am besten auf Clozapin anspricht. Allerdings nimmt sie unter der Therapie 50 kg zu.
Den Ärzten waren zwar EEG-Anomalien aufgefallen, sie hatten diese jedoch nicht für relevant erachtet oder als Effekte der Clozapintherapie fehlgedeutet. Das Mädchen hatte zu seinem Glück ein Buch des Freiburger Psychiaters über Epilepsie und Psyche gelesen und wollte sich daraufhin von ihm untersuchen lassen. Das Team um Tebartz van Elst fand auch bei ihr ein epilepsieartiges EEG-Muster. Unter Antikonvulsiva wurde sie ihre Beschwerden los. Möglicherweise habe die Infektion, die der Erkrankung vorausging, die Hirnveränderungen getriggert, mutmaßt der Experte.
Lokale Netzwerkhemmung als Ursache?
Der Experte geht davon aus, dass fokale Spike-Wave-Komplexe mitunter keine epileptischen Anfälle auslösen, sondern lediglich verbundene Netzwerke hemmen (Local Area Network Inhibition, LANI). Diese Inhibition könne je nach Art des Netzwerks wiederum massive psychische Störungen auslösen. Entsprechend müssten solche Störungen auch bei Patienten mit fokalen Epilepsien auftreten. Tatsächlich werden immer wieder Fälle von postiktalen Psychosen beobachtet, vor allem dann, wenn der Epilepsiefokus Hippocampus und Amygdala umfasst, erläuterte der Psychiater. Dies passe zu den Untersuchungen der Patientin mit Borderlinesymptomen, sie zeigte in diesen Regionen ebenfalls eine auffällige Aktivität.
Was lässt sich nun aus solchen Fällen lernen? Psychiater sollten den Wert einer umfangreichen organischen Diagnostik nicht unterschätzen, so Tebartz van Elst. "Es gibt nur das eine Gehirn. Psychische Symptome sind immer auch Hirnsymptome."
Er empfiehlt grundsätzlich eine EEG-Abklärung. Viele Ärzte würden jedoch ein MRT vornehmen, und, wenn sie dort nichts Auffälliges finden, davon ausgehen, dass keine organische Ursache vorliegt. "Das ist aber falsch", sagte der Psychiater. Das EEG sollte möglichst noch vor dem MRT erfolgen. Sind bei der Ableitung typische Spike-Wave-Komplexe zu sehen, lohne sich ein Therapieversuch mit Antikonvulsiva. In Studien hätten zwischen 6 und 14% der psychiatrischen Patienten solche Komplexe gezeigt. Daraus lässt sich wohl schließen, dass in psychiatrischen Kliniken so mancher Patient behandelt wird, der unter Antikonvulsiva ein normales Leben führen könnte.