Studie

Männer erleben Depressionen anders

Bei Männern werden einer Studie zufolge Symptome einer Depression signifikant seltener erkannt als bei Frauen. Auch ist für eine männerangepasste Therapie die Datenlage noch sehr bescheiden, offenbar wirken SSRI aber bei Frauen besser und Trizyklika bei Männern.

Von Anne Maria Möller-Leimkühler Veröffentlicht:

Eine depressive Störung zuzugeben oder Hilfe zu suchen, bedeutet im traditionellen Männlichkeitsskript noch immer Status-, Männlichkeits- und Identitätsverlust.

MÜNCHEN. Die (unipolare) Depression gilt als eine eher für Frauen typische Erkrankung mit einer von zahlreichen epidemiologischen Studien wiederholt bestätigten zwei- bis dreifach höheren Lebenszeitprävalenz bei Frauen im Vergleich zu Männern. Auch wenn dieser Prävalenzunterschied ein stabiler Befund zu sein scheint, gibt es Gründe, ihn infrage zu stellen: Handelt es sich um die wahre Prävalenz oder haben wir es hier mit einem chronisch reproduzierten Artefakt zu tun, der methodisch beziehungsweise diagnostisch bedingt ist?

Dass Depression als typische Frauenkrankheit angesehen wird, ist nicht zuletzt auf historisch bedingte gesellschaftliche Zuschreibungen und Bearbeitungen dessen zurückzuführen, was für Männer und Frauen als psychisch gesund oder krank gilt und sich auch im geschlechtsspezifischen Gesundheitsverhalten niederschlägt.

So werden Befindlichkeiten und Beschwerden von Frauen eher medikalisiert und psychologisiert, wodurch potenziell ein Genderbias in Richtung psychosomatischer / psychiatrischer Diagnosen mit einer Überdiagnostizierung von Depression gefördert wird. Dagegen besteht bei der Behandlung von Männern ein möglicher Bias in Bezug auf somatische Diagnosen beziehungsweise eine Unterdiagnostizierung von Depressionen, da männliche Beschwerden eher somatisiert und normalisiert werden.

Oft unterdiagnostiziert

In der Tat werden Depressionen bei Männern oft nicht erkannt, weder von Laien noch von Medizinern. Geschlechtsspezifische Studien zum Diagnoseverhalten von Allgemeinmedizinern – die meisten depressiven Patienten befinden sich in der Primärversorgung – sind rar, doch sie verweisen konsistent in eine Richtung: Bei gleichen Symptomen oder Depressionsscores, unabhängig davon, ob diese hoch oder niedrig ausfallen, erhalten Männer signifikant seltener eine Depressionsdiagnose als Frauen.

Defizite zeigen sich ebenfalls in der depressionsspezifischen Therapie, sowohl bei der Verordnung von Antidepressiva als auch bei der Psychotherapie, die zu zwei Dritteln durch Frauen in Anspruch genommen wird.

Wird eine Depression nicht behandelt, kann es zu gravierenden Folgen kommen. Die zunehmende Chronifizierung verursacht nicht nur subjektives Leid und sozialen Abstieg, sondern begünstigt auch eine Fehlversorgung, da nicht psychiatrisch/psychotherapeutisch behandelte psychisch Kranke häufig stationär in somatischen Kliniken betreut werden, was insbesondere auf Männer zutrifft.

Hohe Kosten werden außerdem durch Präsentismus am Arbeitsplatz, häufige und lange Krankschreibungen sowie "Doktorhopping" verursacht. Eine der bedeutsamsten, ebenfalls kostenrelevanten Folgen von Unterbehandlung ist das erhöhte Risiko für psychische und somatische Komorbidität, insbesondere Alkoholabhängigkeit, kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus, die ebenfalls kaum erkannt und behandelt werden.

Die immer wieder bestätigte Geschlechterdifferenz in den Depressionsraten ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Erklärungsansätze fokussieren eher auf die (vermeintlich) höhere Depressionsprävalenz der Frauen. Biologische Faktoren, Inanspruchnahmeverhalten, Symptomberichte und psychosoziale Belastungen müssen als Einflussgrößen in einem multikausalen Zusammenhang verstanden werden.

Vor dem Hintergrund einer genetischen oder biografisch erworbenen Stressvulnerabilität sind Lebenslage und chronische Rollenbelastungen von entscheidender Bedeutung und führen zu geschlechterspezifischen Unterschieden in den entsprechenden psychosozialen Risikofaktoren für Depression (siehe Tabelle unten).

Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur in ihrer objektiven Stressbelastung, sondern auch in ihrer Stressvulnerabilität und -verarbeitung, die wesentlich von der subjektiven Bewertung der Stressoren abhängen. Da Frauen – evolutionsbiologisch und sozialisationsbedingt – interpersonell orientiert sind, sind sie bedeutend anfälliger für Stress, der aus engen sozialen Beziehungen kommt und weisen diesbezüglich stärkere psychobiologische Stressreaktionen auf als Männer. Typische Stressreaktionen sind prosoziale und kommunikative Strategien.

Dagegen sind Männer – evolutionsbiologisch und sozialisationsbedingt – an sozialem Status orientiert und weisen stärkere psychobiologische Stressreaktionen bei leistungsbezogenen Stressoren auf, die ihren Status bedrohen. Der typische Response ist das "fight or flight"-Muster mit externalisierenden Strategien und einem hohen Risiko für Selbst- und Fremdschädigung. Neurobiologische Befunde verweisen bei Männern auf eine Disposition für Aggressivität, Impulsivität und Risikoverhalten, die unter Stressbedingungen beziehungsweise Serotoninmangel noch verstärkt wird.

Traditionelles Männlichkeitsskript

Die männliche Abwehr und Stigmatisierung psychischer Probleme wie ihrer Behandlungsformen ist assoziiert mit Normen traditioneller Maskulinität, die trotz Dekonstruktion immer noch für viele Männer handlungsleitend ist. Emotionale Probleme werden kaum benannt, sondern auf der Verhaltensebene durch Aggressivität, Alkoholmissbrauch, Hyperaktivität oder riskantem Verhalten ausagiert.

Eine depressive Störung zuzugeben oder Hilfe zu suchen, bedeutet im traditionellen Männlichkeitsskript Status-, Männlichkeits- und Identitätsverlust und muss so lang wie möglich vermieden werden.

Folgen von Unterversorgung

  • Erhöhtes Risiko für Alkoholabhängigkeit, kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus,
  • Sozialer Abstieg,
  • Fehlversorgung, da nicht psychiatrisch/psychotherapeutisch behandelte psychisch Kranke häufig stationär in somatischen Kliniken betreut werden,
  • Hohe Kosten für das Gesundheitssystem, verursacht durch lange Krankschreibungen und "Doktorhopping".

Aufseiten des Medizinsystems ist neben struktureller Barrieren ein Genderbias in der gängigen Depressionsdiagnostik eine zentrale Ursache für die Unterdiagnostizierung von Depression. Dieser Genderbias fokussiert auf "weibliche" Symptome, die als prototypisch gelten (orientiert an ICD 10, DSM IV), aber von depressiven Männern konsistent seltener berichtet werden – mit der Folge, dass sie den Schwellenwert für eine klinische Depression oft nicht erreichen.

Möglicherweise werden hier externalisierende Symptome übersehen, die nicht in der standardisierten Depressionsdiagnostik enthalten sind. Werden solche Symptome zusätzlich zu den prototypischen erfasst, reduziert sich der Prävalenzunterschied zwischen den Geschlechtern.

Damit erscheint die Erweiterung der klassischen Depressionskriterien um externalisierende Verhaltensmuster als ein dringend notwendiger Schritt, die Identifizierung von Depression bei Männern zu verbessern und gleichzeitig eine gezieltere Suizidprävention voranzutreiben.

Die allgemeine Datenlage zur Frage einer männerspezifischen Therapie ist zurzeit noch sehr bescheiden. Bisher kann davon ausgegangen werden, dass SSRI offenbar besser bei Frauen, Trizyklika besser bei Männern wirken. Die derzeitige Praxis der Antidepressiva-Behandlung ist allerdings weniger geschlechts- als symptomorientiert, wobei bisher kein Bedarf für ein männerspezifisches Antidepressivum gesehen, aber die Substitution von Testosteron zunehmend diskutiert wird. Hinsichtlich der Psychotherapie sind die kognitive und die interpersonelle Verhaltenstherapie am besten untersucht, mit dem Ergebnis, dass keine Wirkungsunterschiede zwischen den Geschlechtern gefunden wurden. Allerdings liegt die Herausforderung darin, Männer für eine Psychotherapie zu motivieren.

Erschienen ist der Originalbeitrag von Professor Anne Maria Möller, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München, in der Ärzte Woche Nr 3 vom 18. Januar 2018 auf Seite 8.

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