Demografischer Wandel
Neurologen schlagen Alarm
Schlaganfall, Demenz, Parkinson: In der alternden Gesellschaft nehmen neurologische Krankheiten an Bedeutung zu. Das stellt die Neurologie in Europa vor große Herausforderungen - ein heiß diskutiertes Thema bei einem internationalen Kongress in Berlin.
Veröffentlicht:BERLIN. Die Neurologen schlagen Alarm: "Die Dimension und die Krankheitslast neurologischer Erkrankungen in Europa werden unterschätzt. Das Fach ist in Europa mit unzureichenden Ressourcen ausgestattet.
Der Versorgung, aber auch der Forschung auf unserem Fachgebiet sollte höchste gesundheitspolitische Priorität zukommen", sagte am Montag der Präsident der European Academy of Neurology (EAN), Professor Günther Deuschl beim Kongress seiner Fachgesellschaft in Berlin.
Dort tagen bis Dienstag 6500 Experten aus aller Welt und diskutieren aktuelle Trends ihres Fachgebiets.
Über 220 Millionen Kranke, nur 25.000 Neurologen
Armut prädestiniert für Schlaganfall
Sozial schwache Menschen haben ein erhöhtes Risiko für transitorische ischämische Attacken (TIA) in jungen Jahren und in Folge für Schlaganfälle, hat Professor Daniel Bereczki aus Budapest beim Europäischen Neurologiekongress berichtet.
In einer Kongress-Mitteilung stellt er Daten von 4700 TIA-Patienten aus Budapest vor: In einem Nobelbezirk waren sie bei Diagnose im Schnitt 66 Jahre alt, im ärmsten Stadtviertel 62 Jahre. (eb)
Nach Angaben von Deuschl hat ein Drittel der Bevölkerung zumindest einmal im Leben Kontakt mit einem Neurologen. "Daten des European Brain Council zufolge leiden insgesamt 220,7 Millionen Menschen in Europa an mindestens einer neurologischen Erkrankung."
Diesen Anforderungen stehen im EU-Raum insgesamt 25.000 Neurologen gegenüber, die aber geografisch ungleich verteilt sind. Je nach Land sind es zwischen vier und 13 Neurologen je 100.000 Einwohner. Deutschland liegt mit 7,4 im unteren Mittelfeld.
Hierzulande gilt diese Fachgruppe zu den am schlechtesten dotierten Fachärzten in der vertragsärztlichen Versorgung. Nach Auffassung von Deuschl reichen die vorhandenen Ressourcen schon jetzt kaum aus - perspektivisch würden sie immer mehr zum Problem.
Denn die Häufigkeit vieler neurologischer Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz oder Parkinson nehme mit dem Alter zu. Der Anteil der über 65-Jährigen werde sich bis 2060 in Europa auf 52 Prozent mehr als verdoppeln.
Allerdings verbreiten Neurologen auch Hoffnung: Wie kaum eine andere Disziplin entwickele sich die Neurologie "auf Hochgeschwindigkeitskurs". Deuschl: Wir haben also auf die wachsende Herausforderung immer mehr präventive, diagnostische, therapeutische und rehabilitative Antworten."
Volkswirtschaftlicher Schaden ist beträchtlich
Dies müsse in der Forschungsförderung berücksichtigt werden: Ein wichtiger Schritt wäre es, einen angemessenen Anteil der acht Milliarden Euro des EU-Programms "Horizon 2020" in die Neurowissenschaften zu investieren.
Dies sei auch nötig angesichts des immensen Leids betroffener Menschen und der hohen Kosten aufgrund von Behinderung und Pflegebedürftigkeit.
Die volkswirtschaftlichen Kosten neurologischer Krankheiten werden auf 336 Milliarden Euro in Europa geschätzt, ein Drittel davon gehe auf Demenz zurück.
Die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod und Behinderung belaufen sich auf 2,2 Millionen aufgrund von Demenz und 1,6 Millionen durch Schlaganfall.
Die aus zwei Fachgesellschaften neu gebildete European Academy of Neurology könne einen wichtigen Beitrag zu einer hochwertigen neurolofgischen Versorgung in Europa leisten, betonte Deuschl.
Dazu gehöre unter anderem eine koordinierende Rolle in der neurologischen Praxis, Aus- und Fortbildung und die Definition von einheitlichen Standards in Diagnostik und Therapie.