Das Obesity-Paradox

Übergewicht hilft nach Schlaganfall

Rank und schlank macht kerngesund? Nicht immer. Eine neue Studie zeigt: Ein bisschen Übergewicht kann durchaus von Vorteil sein kann - bei Schlaganfällen.

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Vielleicht schon wieder zu viel.

Vielleicht schon wieder zu viel.

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BERLIN. Patientinnen und Patienten mit Übergewicht oder Fettleibigkeit sterben nach einem Schlaganfall seltener und tragen weniger Behinderungen davon als Idealgewichtige.

Das zeigt eine neue Studie, die in Kooperation mit der Charité - Universitätsmedizin Berlin durchgeführt wurde und im European Heart Journal* erschienen ist:

Dieser scheinbar widersprüchliche Zusammenhang, auch Obesity Paradox genannt, wurde in der Vergangenheit bereits bei anderen chronischen Erkrankungen, wie zum Beispiel bei Herzinsuffizienz, beobachtet.

Die nun veröffentlichte Studie belegt zum ersten Mal, dass der Obesity Paradox bei Schlaganfall ebenfalls zutrifft (European Heart Journal 2012, online 16. Oktober).

Übergewichtige tragen auch weniger Behinderungen davon

Die Wissenschaftler haben in ihrer Studie den Zusammenhang zwischen dem Körpergewicht und den Folgen eines Schlaganfalls untersucht. Dabei haben sie herausgefunden, dass übergewichtige Menschen einen Schlaganfall eher überleben, weniger Behinderungen davontragen und seltener pflegebedürftig werden als Normalgewichtige.

Zwar ist das Risiko, einen ersten Schlaganfall zu erleiden, für übergewichtige Menschen höher als für Normalgewichtige. Jedoch ist für übergewichtige Patienten, die bereits einen Schlaganfall hatten, das Risiko eines weiteren Schlaganfalls keineswegs höher. Professor Wolfram Döhner vom Centrum für Schlaganfallforschung Berlin an der Charité ist Erstautor der Studie.

"Die Erkenntnis ist für Patienten mit Schlaganfall neu. Die Behandlungsleitlinien für Schlaganfälle in Deutschland, in Europa und in den USA empfehlen bisher alle eine Gewichtsreduzierung nach einem ersten Schlaganfall, sofern Übergewicht oder Fettleibigkeit besteht. Diese Empfehlungen stützen sich aber auf Expertenmeinungen basierend lediglich auf Erkenntnissen aus der Primärprävention, da tatsächliche Daten dazu bisher fehlen.", so Döhner in einer Mitteilung der Charité - Universitätsmedizin Berlin.

Der aktuellen Studie nach sind Menschen mit Untergewicht am schwersten von einem Schlaganfall betroffen.

Im Vergleich zu Menschen mit vermeintlichem Idealgewicht ist das Risiko, an einem Schlaganfall zu sterben, bei Übergewichtigen dagegen um 14 Prozent verringert. Bei fettleibigen Patientinnen sinkt das Sterblichkeitsrisiko um 24 bis 45 Prozent.

Eine landläufige Empfehlung wird ausgehebelt

Die Ergebnisse der Studie sehen die Forscher im scharfen Kontrast zu der landläufigen Empfehlung für Patientinnen und Patienten, nach einem ersten Schlaganfall abzunehmen.

Die Erkenntnis, die aus der Forschungsarbeit gezogen werden kann, "widerstrebt nur unserem eingehämmerten Mantra des Schlankseins als universellem Gesundheitsgaranten", sagt Professor Döhner.

"Bei Patienten mit bereits bestehenden Erkrankungen sollte das Gewichtsmanagement aber anders bewertet werden." In der Studie wurden die Daten von 1.521 Patienten einer multizentrischen Schlaganfallstudie aus den Jahren 2003 bis 2005 ausgewertet.

Als normalgewichtig gilt nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation jeder mit einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 18,5 und 25.

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Kommentare
Dr. Joachim Malinowski 07.01.201314:06 Uhr

Übergewicht hilft nach Schlaganfall

Vorab ein Zitat zur o.g. Studie aus "http://www.medpagetoday.com/GarySchwitzer/36713":

"...Walter Willett of the Harvard School of Public Health, for example, lost his cool this morning on NPR, declaring, “This study is really a pile of rubbish and no one should waste their time reading it...”

Sicher ist ein wenig mehr Fett nicht schlecht bei konsumierenden Erkrankungen. Magere Patienten dekompensieren wohl schneller, alles eine Frage der Körperreserven, wie man es aus der Dritten Welt her kennt. Aber kann man daraus so einen reißerischen Artikel machen und der Adipositas in Bild und Wort zureden?
Es bleibt spannend, wie sich dies alles weiter entwickeln wird. Ich für meinen Teil werde deswegen nicht noch mehr Döner essen.

vlad arghir 06.01.201303:27 Uhr

und was die anderen sagen

Journalisten:
http://fullfact.org/factchecks/do_overweight_people_have_a_lower_death_risk-28685

Die Originalstudie:
http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1555137

Zusammenhang ? Kausalität.

vlad arghir 05.01.201315:33 Uhr

journalistische „insider”-Präzisierungen

Wie so oft wenn die AZ aus der US-Fachpresse übernimmt, ist es interessant auch dorthin zu schauen:
http://www.medpagetoday.com/GarySchwitzer/36713

MfG,

Dr. Thomas Georg Schätzler 03.01.201323:55 Uhr

Paradoxes "Obesity" Paradoxon

Der für die hier referierte Studie verwendete "cut-off" eines BMI von größer oder gleich 18,5 entspricht bei einer Größe von 180 cm nur noch 59 kg Körpergewicht. Für die Signifikanz der Verbesserung des "Outcome" bei dieser multizentrischen Schlaganfallstudie ist das angesichts unseres heutigen Ernährungsverhaltens evtl. eine Fehleinschätzung ("bias")? Der statistische Vorteil für Übergewicht und Adipositas nach Schlaganfall bleibt möglicherweise dadurch erklärbar, dass den Schlaganfall begleitende, potenziell konsumierende COPD, Herzinsuffizienz oder Tumorkrankheiten einen katabolen Stoffwechsel aufweisen. Dies wiederum könnte zu einer statistisch verzerrenden E r h ö h u n g der Mortalität in der Population der noch normgewichtigen Patienten gegenüber den Übergewichtigen mit ihrem anabolen Stoffwechsel führen.

Vergleichbar mit der problematischen Schlussfolgerung einer Diabetes-Studie: "Conclusion: Adults who were normal weight at the time of incident diabetes had higher mortality than adults who are overweight or obese."?
• http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1309174
Denn Adipöse haben gute, therapeutisch zugängliche Gründe für ihren Typ-2-Diabetes: Bewegungsmangel, metabolisches Syndrom, Insulinmangel bei relativer Betazellinsuffizienz und zunehmende Insulinresistenz. Normalgewichtige mit Typ-2-D.m. haben dagegen eine progrediente, absolute Betazellinsuffizienz mit dramatischerem Krankheitsverlauf und höherer Mortalität, die idiopathisch, metabolisch oder genetisch determiniert sein könnte.

Auch das ''Adipositas-Paradoxon'' bei systolischer Herzinsuffizienz bleibt rätselhaft. Übergewicht erhöht das Herz-Kreislauf-Risiko bei Gesunden. Wer bereits erkrankt ist, profitiert eher vom Übergewicht: "The obesity paradox in men versus women with systolic heart failure."
• http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22497678
Dabei wurde die kardiopulmonale Kachexie übersehen. Patienten mit fortgeschrittener, schwerer Herzinsuffizienz entwickeln in der Endstrecke NYHA IV eine katabole Energiebilanz. Dann trifft die höhere Sterblichkeit vermehrt untergewichtige Herzinsuffizienz-Patienten.

Eine gerade publizierte Mega-Meta-Analyse mit 2,88 Millionen Teilnehmern entwickelt bei unzureichender Hypothesenbildung und mangelhafter Reflexion ähnliche "Bias“. Bei der Betrachtung der Gesamtmortalität hatten lediglich geringfügig Übergewichtige einen statistisch signifikanten Vorteil gegenüber Normgewichtigen.
• http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleID=1555137
In der Diskussion dieses evtl. nur scheinbaren Vorteils wurde ebenfalls nicht berücksichtigt, dass konsumierende Erkrankungen, bzw. präfinale Zustände aller Altersstufen einen katabolen Stoffwechsel aufweisen. Dadurch ist die Mortalität in der Population der Patienten mit BMI größer oder gleich 18,5 gegenüber den vergleichsweise moderat Übergewichtigen insgesamt gesteigert.

Die Gleichung "schlank gleich gesund" gilt für Gesunde, nicht für kranke Schlanke. Und auch Übergewichtige bleiben nur dann länger am Leben, wenn sie gesund bleiben oder mit Schlaganfall-, Diabetes- bzw. Herzinsuffizienz nicht als Kranke dekompensieren.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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