Adipositas auf Rekordniveau
Übergewicht wird eine schwere Last für China
Zwar sind Hunger und Armut in China noch nicht verschwunden. Dennoch steigt die Zahl dickleibiger Chinesen rasant. Der neu gewonnene Reichtum beschert der Volksrepublik eine Gesundheitskrise.
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Lu Zhihao wird von chinesischen Medien als das dickste Kind Chinas bezeichnet: Der Vierjährige wiegt 62 Kilo bei 110 cm Körpergröße.
© Zhou Tian/dpa/picture alliance
Peking. Mit wachsendem Wohlstand werden die Chinesen dicker. Die Zahl der Übergewichtigen und Fettleibigen dort ist 2021 bereits über die Rekordmarke von 400 Millionen gestiegen – und könnte laut einer neuen Schätzung bis 2050 sogar 627 Millionen erreichen, wie das Wissenschaftsmagazin „The Lancet“ berichtet. Ursachen sind die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, eine ohnehin ausschweifende traditionelle Esskultur, unausgewogene Ernährung und mangelnde Bewegung.
Nirgends leben weltweit mehr übergewichtige oder adipöse Menschen als in der Volksrepublik: In Indien, das China 2023 mit 1,4 Milliarden Menschen als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst hat, waren es 2021 rund 180 Millionen. Die Adipositas-Krise verbindet auch die beiden Systemrivalen China und USA: Gemessen an der Bevölkerung haben die USA mit rund 74 Prozent allerdings einen noch höheren Anteil an korpulenten und fettleibigen Menschen.
Essen ist ein zentraler Bestandteil der chinesischen Kultur, mehr noch als in vielen anderen Ländern. „Hast Du schon gegessen?“, lautet in China eine Begrüßungsformel, die in Deutschland mit „Wie geht’s?“ verglichen werden kann. Dicksein ist in der stark landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft weniger Stigma, sondern vielmehr Ausdruck von Wohlstand und Wohlergehen.
Essgelage als Kultur
In Restaurants essen zu gehen, Freunde und Gäste zu Essgelagen einzuladen, gehört zur chinesischen Kultur. Dass dabei mehr aufgefahren wird, als aufgegessen werden kann, gilt als gute Etikette und Beweis für die hohe Wertschätzung des Gastes. Die Regierung versucht schon, solcher Verschwendung Einhalt zu bieten.
Vor sechs bis sieben Jahrzehnten hat China noch verheerende Hungersnöte mit Millionen Toten erlebt. Auch hat die Kommunistische Partei vor vier Jahren erst die Beseitigung der extremen Armut verkündet. Die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich, wohlhabenden Städten und rückständigem Land, ist aber weiter extrem – und spiegelt sich im Widerspruch zwischen dicken Städtern und Menschen im ländlichen Raum, die täglich um ihre Nahrung kämpfen müssen.
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„Chinas Bevölkerung steht vor der Herausforderung durch eine Koexistenz von Übergewicht/Adipositas und Nährstoffmangel, der insbesondere für die einkommensschwache Landbevölkerung gilt“, stellt das Welternährungsprogramm (WFP) fest. Der Globale Hungerindex (GHI), hinter dem auch die Welthungerhilfe steht, beschreibt den Anteil von unterernährten Chinesen an der Bevölkerung mit unter 2,5 Prozent – was aber immer noch einige Millionen sind.
Entwicklungsland mit Großmachtanspruch
4,2 Prozent der Kinder gelten laut GHI als wachstumsverzögert. 1,6 Prozent der chinesischen Kinder unter fünf Jahren leiden demnach unter Auszehrung. Der Index beklagt aber einen Mangel an offiziellen Daten aus China, das sich zwar einerseits als Entwicklungsland beschreibt, andererseits aber – nach den USA – zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit Großmachtanspruch ist.
Das Welternährungsprogramm arbeitet mit China daran, über Pilotprojekte die Ernährung von Vorschulkindern und die Produktivität von Kleinbauern zu verbessern. Auch soll die landwirtschaftliche Resilienz und Nahrungsversorgung „gefährdeter Bevölkerungsgruppen“ gestärkt werden, beschreibt das WFP seine Mission in China.
Während auf diese Weise gegen Hunger angegangen werden muss, lasten zugleich Übergewicht und Fettleibigkeit schwer auf dem landesweit ohnehin schlecht entwickelten Gesundheitswesen. Folgen sind chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen und auch bestimmte Arten von Krebs. Die Gesundheitskommission in Peking warnt, dass die Kosten für die Behandlung übergewichtiger oder adipöser Menschen im Land bis 2030 umgerechnet 50 Milliarden Euro erreichen könnte. Das wäre ein Fünftel der gesamten jährlichen Gesundheitsausgaben. (KNA)