TV-Kritik

Was ADHS-Kinder wirklich erleben

Großes Dokumentarkino im Fernsehen: Das war die ADHS-Doku "Pillen für den Störenfried" im Ersten. Wer die Sendung kurz vor Mitternacht gesehen hat, konnte in die Abgründe blicken, die sich vor manchen Betroffenen auftun.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Philipp: Kein Schulplatz für ein ADHS-Kind.

Philipp: Kein Schulplatz für ein ADHS-Kind.

© Filmtank / SWR

Auf den späten Sendeplätzen nach 23 Uhr finden sich oft die Perlen des öffentlich rechtlichen Fernsehens. "Pillen für den Störenfried" war so ein herausragender Dokumentarfilm am Montagabend in der ARD.

Gezeigt wurden mehrere Monate im Leben von drei Kindern mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Behutsam hat sich die Autorin Sylvia Nagel dabei den Betroffenen, ihren Eltern, Lehrern, Therapeuten und Ärzten genähert und diese vom Alltag mit der Störung und ihren Erfahrungen berichten lassen.

Beeindruckend und traurig ist es, wenn man in der Reportage sieht, wie einsam der Stempel ADHS ein Kind machen kann. Der 14-jährige Philipp ist so einer, an dem sich die öffentlichen Betreuungseinrichtungen abgearbeitet haben.

Als aggressiv und lautstark wird er von einer ehemaligen Lehrerin beschrieben. Er hat unter Mitschülern ständig Herabsetzung gewittert und immer wieder Konflikte heraufbeschworen.

An der Außenseiterrolle leidet er so stark, dass er sich einmal sogar aus dem Fenster stürzen wollte. "Dann habt Ihr keine Probleme mehr", hatte er damals seiner Mutter gesagt. Seitdem bekommt er Medikamente.

Philipp ist zu Beginn des Films seit zwei Jahren zu Hause, weil keine Schule seiner Region ihn mehr aufnehmen will. Notdürftig versucht ihm seine nicht-berufstätige Mutter den Unterrichtsstoff zu vermitteln.

"Früher haben sich Jungs auch gekloppt"

Das Jugendamt ist keine Hilfe. Die Eltern führen einen Kampf, damit er wieder in einer Schule aufgenommen wird. Ein Hoffnungsschimmer ist ein sechswöchiger Aufenthalt in einer Spezialklinik, der aber wegen Konflikten abgebrochen werden muss.

Zum Schluss des Films wird er in ein spezialisiertes Internat aufgenommen, das 3500 Euro im Monat kostet.

Die im Film gezeigten beiden anderen Kinder mit ADHS sind jünger: Tim geht in die dritte Klasse. Seine Eltern lehnen eine Medikation ab. Sie haben eine Therapeutin gefunden, die über die Jahre eine persönliche Beziehung zu dem Kind aufgebaut hat.

Seine Lehrerin sieht Fortschritte, trotzdem sei er noch das auffälligste Kind in der Klasse. Eine Stütze ist ihm auch seine Oma: "Früher haben sich die Jungs auch gekloppt", sagt sie.

Und heute beschweren sich Eltern anderer Kinder schon bei einem Schubser. Einem Kind sei sogar der Umgang mit ihrem Enkel verboten worden.

Dass eine Verhaltenstherapie für Kinder mit ADHS nicht selbstverständlich ist, berichtet der Kinderarzt von Luis, des dritten gezeigten Kindes. Ein halbes bis ein Jahr müsse man auf einen Therapieplatz warten, und dann wirke die Behandlung auch nicht sofort.

Bei Luis setzen die Eltern auf eine medikamentöse Behandlung, die dem Kind einen relativ normalen Schulalltag ermöglicht. Ob er aber jemals ohne die Medikamente wird bestehen können?

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Kommentare
Dr. Hans-Jürgen Kühle 08.05.201223:30 Uhr

Falsche Alternativen

Der Bericht zeigte eindrücklich die Schwierigkeiten dreier Kinder mit ADHS, jedoch in einer sehr tendenziösen Aufbereitung: Die Eltern des Kindes, das Medikament bekam, wurden nur in Situationen gezeigt, in denen es um Anforderungen ging, der Junge, der kein Medikament nahm, nur in schönen Spiel- und Trainingssituationen. Das Medikament wurde zum popanz aufgebaut, das gipfelt im letzten Satz Ihres Artikels "Ob er aber jemals ohne die Medikamente wird bestehen können?"
dessen wäre ich mir ganz sicher. Unkommentiert konnte man sehen, dass der Junge mit Medikation gut mit sich zurecht kam und sicher viele gute erfahrungen mit sich machen und sich damit zu einer Persönlichkeit mit Selbstvertrauen entwickeln kann - dazu braucht er später kein Medikament mehr, aber eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit.
Der junge ohne Med. hatte es darin viel schwerer - die Apriori-Vorentscheidung gegen Medikation "weil Medikamente immer etwas schlechtes sind" ist immerhin auch ein Vorenthalten von Chancen!
Hätte man den kinderarzt mal länger zu Wort kommen lassen, dann hätte er solche Zusammenhänge wohl beleuchten können, das war aber wahrscheinlich mal wieder nicht gewollt - ob das von Nutzen für unsere Patienten ist??

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