Germanwings-Absturz
Was ging in Andreas L. vor?
Der Co-Pilot soll die Germanwings-Maschine mit 150 Menschen an Bord bewusst zum Absturz gebracht haben. Über seine möglichen Motive hat die "Ärzte Zeitung" mit Suizid-Experten gesprochen.
Veröffentlicht:BAYREUTH. Vielleicht liefert das Kino eine Erklärung: Anfang dieses Jahres war der gefeierte argentinische Episodenfilm "Wild Tales" zu sehen.
In einer der Episoden lädt ein Mann anonym alle diejenigen ein, die ihn irgendwann einmal gekränkt haben, bucht einen gemeinsamen Flug und sitzt dann selbst am Steuer. Er verriegelt das Cockpit und stürzt mit ihnen in den Tod.
Wollte sich Andreas L. in ähnlicher Weise rächen, an der Welt, der Gesellschaft? Hat er gar den Film gesehen und wurde dadurch inspiriert?
Noch ist wenig bekannt über die Motive des jungen Piloten, der 149 weitere Menschen mit in den Tod riss, als er die Cockpittür hinter sich verschloss und den Sinkflug einleitete.
Doch scheint Rache einer der möglichen Gründe zu sein - das Fanal eines Gekränkten.
"Depressive sterben meist alleine"
Dieses Motiv hält Professor Manfred Wolfersdorf, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik in Bayreuth, für durchaus wahrscheinlich, einen "depressiven Modus" hingegen weit weniger.
Depressive, so der Psychiater im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung", sterben meist alleine.
Am ehesten nimmt die depressive Mutter aus pseudo-altruistischen Motiven noch das Kind mit, weil sie dieses bedroht sieht, oder schlicht, um es nicht alleine in dieser Welt zurückzulassen.
"L. kennt seine Opfer nicht, er nimmt sie um ihrer Funktion willen mit. Hier geht es um den aggressiven Aspekt des Suizids, die Macht über andere, um Rache und Vorstellungen wie: ,Die Welt mag mich nicht, keiner will mich, niemand respektiert mich.‘ Hier geht es um eine Verletzung des eigenen Wertgefühls, des eigenen Narzissmus. Und dann setzt man ein solches Fanal."
"Er stürzt aus dem Himmel, und die ganze Welt schaut zu"
Der Flugzeugabsturz erinnert den Psychiater an den Tod des FDP-Politikers Jürgen Möllemann: "Er stürzt aus dem Himmel, und die ganze Welt schaut zu."
L. hat sich offenbar als "Flying Andi" bezeichnet. "Das spricht für gewisse Größenideen." Möglicherweise fühlte er sich aber in seinen Kompetenzen und seinem Können nicht anerkannt.
Nach Medienberichten trug er den Spitznamen "Tomaten-Andi", als er eine Zeit lang als Flugbegleiter arbeitete.
Vielleicht ließ die Diskrepanz zwischen den narzisstischen Vorstellungen und den erlebten Kränkungen seine Suizid-Idee aufblühen.
Dann könnte ein Tropfen genügt haben, eine banale Bemerkung, eine weitere Kränkung, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, vermutet Wolfersdorf.
Entscheidung kann kurzfristig fallen
Auch wenn die Suizid-Idee mitunter jahrelang in jemandem gärt, die endgültige Entscheidung kann dann sehr kurzfristig fallen.
"Sie wird bei etwa der Hälfte der Suizide erst in der Stunde vor dem Tod getroffen."
Geht man davon aus, dass L. tatsächlich die Germanwings-Maschine zum Absturz bringen wollte, sind auch noch andere Motivlagen denkbar.
So könnte der Co-Pilot den Tod der anderen Menschen auch einfach nur in Kauf genommen haben.
"Vielleicht hat ihm in dieser Situation das Mitgefühl gefehlt und er wollte seinen Todeswunsch ohne Rücksicht auf das Leben der Passagiere umsetzen", sagte Dr. Wolfram Dorrmann, Psychotherapeut aus Fürth und Autor des Standardwerks "Suizid" im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".
Eine spontane Kurzschlussreaktion hält er dagegen für unwahrscheinlich: "Acht Minuten im Sinkflug sind eine lange Zeit, hier muss schon eine bewusste Entscheidung dahinter stehen."
Den Wunsch, sich selbst zu töten, können auch Medikamente verstärken oder gar auslösen, so der Psychotherapeut.
Im Verdacht stünden hier etwa Gyrasehemmer, das Akne-Mittel Isotretinoin oder eine beginnende SSRI-Therapie. Veränderungen des Hirnstoffwechsels scheinen auch bei Personen Suizid-Ideen zu begünstigen, die noch nie zuvor Selbsttötungsabsichten hatten.
"Solche Menschen erleben diesen Wunsch aber dann häufig als ichfremd."
Kritisch seien die Zustände, wenn sie auf eine Situation treffen, in der ein Suizidwunsch nachvollziehbar erscheint, wenn sich die Personen als zuvor schon hoffnungslos oder von der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlten.
Vor dem Suizid noch zum Arzt
Dorrmann verweist auf ein weiteres interessantes Detail: Die meisten Selbsttötungen finden nicht lange nach einem Arztbesuch statt - auch L. war in ärztlicher Behandlung und am Flugtag krankgeschrieben.
"Oft klagen Männer vor dem Suizid über Gereiztheit und Schlaflosigkeit." Mitunter bekommen sie dann Anxiolytika verordnet, und diese lösen vielleicht auch die Angst vor dem eigenen Sterben.
War das vielleicht ein Grund, weshalb L. acht Minuten völlig ruhig dem Ende entgegensah?
Auch der Psychiater Wolfersdorf hält psychoaktive Substanzen für eine alternative Erklärung: "Nimmt jemand Crystal Meth, dann kann das eine akute psychotische Episode mit Verfolgungsideen auslösen. So jemand kann durchaus die Tür zusperren, auf niemanden mehr reagieren und auf das Ende warten."
Wie können Airlines sich schützen?
Die genauen Umstände werden sich wohl nie rekonstruieren lassen, doch wie können sich Fluggesellschaften besser vor psychisch labilen Piloten schützen?
Für Dorrmann sind regelmäßige Untersuchungen sinnvoll, bei denen auch auf Stresssymptome wie Schlaflosigkeit und Reizbarkeit geachtet wird sowie auf körperliche Probleme, die bei Männern mit Depressionen gehäuft auftreten.
Die Lebensgeschichte sollte ebenfalls genauer analysiert werden: Ist der Verlust eines Lebenspartners oder nahen Angehörigen zu beklagen?
"Gerade in jungen Jahren kann auch der erste große Liebenskummer sehr dramatisch sein, da sind suizidale Gedanken nicht selten", erläuterte der Psychotherapeut.