Autoimmun-Enzephalitis
Wenn Antikörper das Gedächtnis ausknipsen
Psychische Störungen und Gedächtnisverlust - erst vor wenigen Jahren wurde die Anti-NMDAR-Enzephalitis bei jungen Frauen beschrieben. Sie scheint allerdings häufiger zu sein als bisher angenommen.
Veröffentlicht:HAMBURG. Eine Schülerin zieht sich plötzlich zurück, wird passiv, depressiv, macht in der Schule nicht mehr mit. Es folgen unkontrollierbare epileptische Anfälle.
Eine andere hat plötzlich erhebliche Gedächtnisprobleme, kann auf Nachfrage keine drei unterschiedlichen Farben nennen und sich keine neuen Wörter merken.
Welcher Arzt würde vermuten, dass er mit einer Kortikoidtherapie beide Mädchen schnell und vollständig wieder in Remission bringt?
Auf dem Neurologenkongress in Hamburg präsentierte Privatdozent Christian Bien vom Epilepsiezentrum Bethel Fallbeispiele von Patienten mit einer neurologischen Krankheit, die möglicherweise gar nicht so selten ist wie zunächst angenommen: der Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper-Enzephalitis, kurz Anti-NMDAR-Enzephalitis.
Vor fünf Jahren wurde sie in einer ersten Publikation bei zwölf Patientinnen im Alter zwischen 14 und 44 Jahren beschrieben, alle hatten ein Teratom.
Da Keimzelltumoren auch Nervenzellen ausbilden, vermutet man, dass diese die Autoimmunreaktion gegen den NMDA-Rezeptor auslösen.
Inzwischen, so Bien, sei die Erkrankung bei über 400 Patienten beschrieben worden, von denen ein Großteil keine Tumoren hatte.
Depression, Halluzination, Gedächtnisverlust
Auch hat sich das Symptomspektrum etwas verschoben. Typisch sei zwar immer noch eine Kombination von psychischen und neurologischen Symptomen bei zuvor meist unauffälligen jungen Frauen.
Zu diesen Symptomen zählen Apathie, Depression, Angst, Halluzinationen, Amnesie, Gedächtnisverlust, autonome Dysfunktionen, Dyskinesien, epileptische Anfälle und Bewusstseinsstörungen.
Mittlerweile werden jedoch immer häufiger auch weniger schwere Fälle erkannt, in denen es zu keinen Bewusstseinstrübungen und MRT-Auffälligkeiten kommt.
Auch eine lebensbedrohliche Hypoventilation - zu Beginn noch eines der Hauptprobleme - werde inzwischen eher selten beobachtet.
Betroffen sind zudem nicht nur Frauen: Etwa 10 bis 20 Prozent der Patienten sind männlich. Am häufigsten tritt die Krankheit am Ende der zweiten und zu Beginn der dritten Lebensdekade auf.
Antikörper können nachgewiesen werden
Über einen Nachweis der Autoantikörper gelingt die Diagnose recht zuverlässig - wichtig ist daher vor allem, rechtzeitig daran zu denken, dass es sich bei den neuropsychiatrischen Symptomen um eine Anti-NMDAR-Enzephalitis handeln kann, denn unbehandelt endet die Krankheit häufig tödlich.
Die Antikörper werden unter anderem mithilfe von Zellkulturen nachgewiesen, die den NMDA-Rezeptor exprimieren.
Vor einer Therapie sollten die Patienten zunächst auf Teratome untersucht werden, da diese oft mit der Erkrankung assoziiert sind.
Werden die Tumoren entfernt und die Patienten immunsuppressiv behandelt, dann ist die Prognose recht gut: In der ersten, 2007 veröffentlichten Studie mit zwölf Patienten remittierten acht von neun Patienten mit immunsuppressiver Therapie nach Tumorresektion, dagegen starben zwei von drei Patienten, bei denen das Teratom nicht rechtzeitig erkannt wurde, an den Folgen der Enzephalitis.
Nach Auswertung der Daten von über 400 Patienten lassen sich etwa drei Viertel der Betroffenen in Remission bringen, wobei sie sich dann häufig nicht mehr an die Akutphase der Erkrankung erinnern können, ein Fünftel überlebt mit neurologischen Schäden, und 4 bis 5 Prozent der Patienten sterben.
Patienten mit einem Tumor haben offenbar eine bessere Prognose als Patienten, bei denen sich keine Ursache für die Entwicklung der Autoantikörper finden lässt.
Gestörte Langzeitpotenzierung
Wenn man sich die häufig sehr schweren Symptome der betroffenen Patienten betrachtet, dann sei eine vollständige Remission bei einem Großteil der Betroffenen doch erstaunlich, sagte Bien. Aktuelle Untersuchungen könnten dies jetzt zum Teil erklären.
So hatte man in Hirnbiopsien aus Arealen, die im MRT auffällig waren, keine Infiltrate und keine Gewebedestruktion gefunden. Daher sei der Begriff "Enzephalitis" eher irreführend.
In Experimenten konnte vielmehr gezeigt werden, dass die Autoantiköper die NMDA-Rezeptoren an der Zelloberfläche zusammenschnüren, worauf sie von der Zelle internalisiert und abgebaut werden.
In Tierversuchen führte dies zu einer gestörten Langzeitpotenzierung, wie sie für das Lernen nötig ist. Das, so Bien, erkläre den oft eklatanten Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und die später fehlende Erinnerung an die Krankheit.
Werden die Autoantikörper rechtzeitig entfernt, bilden sich die NMDA-Rezeptoren wieder neu, und es kommt zur Remission. Die Erkrankung basiere daher zunächst auf einer NMDA-Unterfunktion, so der Experte aus Bethel.
Quelle: www.springermedizin.de