Gastbeitrag

Kinder impfen gegen den Lockdown? Das ist ärztlich unethisch!

In Kürze schon könnte eine COVID-19-Vakzine für ab Zwölfjährige zur Verfügung stehen. Politiker diskutieren über Reihenimpfungen, damit die Kinder wieder in die Schule können – und der Lockdown endet. Das wäre ein Bruch mit ärztlichen Prinzipien.

Von Thomas Maibaum und Wolfgang Schneider-Rathert Veröffentlicht:
Bis zum Ende der Sommerferien sollen nach Plänen der Politik auch ab 12-Jährige ein Corona-Impfangebot erhalten.

Bis zum Ende der Sommerferien sollen nach Plänen der Politik auch ab 12-Jährige ein Corona-Impfangebot erhalten.

© klavdiyav / stock.adobe.com

In Kanada und den USA ist der COVID-19-Impfstoff Comirnaty® von BioNTech/Pfizer seit Anfang Mai für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen. An diesem Freitag könnte die europäische Arzneimittelagentur EMA eine ähnliche Zulassungsempfehlung abgeben. Derweil ist hierzulande eine Diskussion über den Einsatz der mRNA-Vakzine bei ab Zwölfjährigen entbrannt.

Die Bundesminister für Gesundheit, Forschung und Familie, Jens Spahn, Anja Karliczek und Christine Lambrecht, hoffen auf Impfangebote für alle Jugendlichen bis Ende der Sommerferien. Doch aus medizinischen Fachgesellschaften werden zunehmend Zweifel am Risiko-Nutzen-Verhältnis geäußert.

Ist die Studienlage ausreichend?

Während weltweit bisher Hunderte Millionen Erwachsene gegen SARS-CoV-2 geimpft wurden, gibt es bislang de facto keine breite Erfahrung mit der Impfung bei Kindern und Jugendlichen. Wissenschaftliche Publikationen dazu sind rar.

Erst in der Nacht zu diesem Freitag wurden erste Daten der Phase-III-Studie mit der Impfung von Comirnaty® (BNT162b2) bei Zwölf- bis 15-Jährigen veröffentlicht. Die Daten entsprechen denen, die wir aus den Zulassungserweiterungen in Nordamerika kennen (N Engl J Med 2021; online 27. Mai).

In der Studie erhielten 1131 die Vakzine und 1129 Placebo. Unter Verum kam es in der Nachbeobachtungszeit zu keiner SARS-CoV-2Infektion, in der Placebogruppe zu 16 Fällen. Für das Follow-up wurden 98 Prozent der Probanden einen Monat und 58 Prozent mindestens zwei Monate nachbeobachtet.

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert, Hausarzt in Querum

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert, Hausarzt in Querum

© privat

An Nebenwirkungen traten in der Studie nach der ersten Impfdosis bei 86 Prozent der Impflinge Schmerzen an der Injektionsstelle auf. 60 Prozent gaben Müdigkeit an, 55 Prozent Kopfschmerzen, 28 Prozent Schüttelfrost und zehn Prozent Fieber. Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Müdigkeit traten nach der zweiten Dosis noch etwas häufiger auf (20, 42, 65 und 66 Prozent). Bei 3,4 Prozent aller mit BNT162b2 Geimpften wurden die systemischen Nebenwirkungen als schwerwiegend eingestuft.

In der Zulassungsstudie für Comirnaty® bei den ab 16-Jährigen traten die Nebenwirkungen zum Teil seltener auf (N Engl J Med 2020; 383: 2603–2615). Nach der ersten Dosis berichteten 83 Prozent der 16- bis 55-Jährigen von Schmerzen an der Einstichstelle, 47 Prozent von Müdigkeit, 42 Prozent von Kopfschmerzen, 14 Prozent von Schüttelfrost und vier Prozent von Fieber. Auch hier waren die Nebenwirkungsraten bei der Zweitimpfung höher. Seit März läuft zudem eine Studie, in der knapp 4500 Kinder zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren geimpft werden sollen. Auch andere Impfstoffhersteller haben entsprechende Studien aufgelegt.

Dem gegenüber steht das Risiko durch eine COVID-19-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) verzeichnete bis zum 23. Mai 1548 stationäre Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen und 74 intensivpflichtige Fälle. Über 50 Prozent waren jünger als drei Jahre, 37 Prozent jünger als ein Jahr.

Zweidrittel der Minderjährigen auf Intensivstation hatten schwere Vorerkrankungen. Bisher starben 20 Kinder und Jugendliche im Alter bis 19 Jahren an oder mit COVID-19. Im Jahr 2019 starben 55 Kinder bei Verkehrsunfällen und 25 ertranken. Somit mussten innerhalb der letzten 16 Monate weniger als 0,01 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland wegen COVID-19 stationär aufgenommen werden, weniger als 0,00002 Prozent starben daran.

Was die Medizinethik dazu sagt

In der Genfer Deklaration des Weltärztebundes geloben wir Ärzte, dass Gesundheit und Wohlergehen unserer Patienten unser „oberstes Anliegen“ sein werden und wir „Autonomie und Würde“ unserer Patienten respektieren. Childress und Beauchamp nennen vier Säulen der Medizinethik: Autonomie, Non-Malefizienz, Benevolenz und Gerechtigkeit.

Bei der Impfung wird die Autonomie der Kinder und Jugendlichen in den meisten Fällen durch die Erziehungsberechtigten wahrgenommen. Die Benevolenz konzentriert sich hier auf die Verhinderung zusätzlicher COVID-19-Erkrankungen. Darüber hinaus gilt es auch, Fälle eines Long-COVID zu verhindern, insbesondere das multisystemische Entzündungssyndrom (MIS-C).

Dr. Thomas Maibaum, Hausarzt in Rostock

Dr. Thomas Maibaum, Hausarzt in Rostock

© di

Die Malefizienz, die es zu verhindern gilt, wären etwa Impfnebenwirkungen. Gerade bei Kindern gilt, dass sie gegenüber Erwachsenen ein geringes Risiko für eine schwere COVID-19 haben, aber ein erhöhtes Risiko für eine schwere Nebenwirkung. Gerechtigkeit als vierte Säule der Prinzipienethik zielt im konkreten Fall auf die Verteilung der nach wie vor nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Impfdosen auf die Bevölkerung.

Aus den vorgenannten Gründen ist eine Impfung von Kindern und Jugendlichen eher eine Fehlallokation, solange ein Impfstoffmangel besteht und nicht alle Erwachsenen der Priorisierungsgruppen 1 bis 3 immunisiert wurden. Dies beklagt auch WHO-Generaldirektor Tedros Ghebreyesus. Er bittet ausdrücklich darum, weltweit zuerst die Verletzlichsten zu impfen. Impfungen, die Kinder hierzulande möglicherweise sogar gefährden, würden andernorts fehlen und Menschenleben kosten.

Kinder für die Herdenimmunität

Laut dem Robert Koch-Institut (RKI) müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein, um eine Herdenimmunität zu erreichen. In der Corona-Pandemie bezeichnet der Begriff eine Impfquote, ab der exponentielle Erkrankungswellen verhindert werden. Rund 70 Prozent aller erwachsenen Bundesbürger wollen sich Umfragen zufolge gegen Corona impfen lassen. Hinzu kommen die von einer SARS-CoV-2-Infektion Genesenen. Inwieweit die etwa 4,5 Millionen Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren (rund 5,5 Prozent der deutschen Bevölkerung) das Erreichen dieses Ziels beschleunigen können, ist fraglich.

Auch darf man die Bundesrepublik Deutschland nicht isoliert betrachten. Eine Herdenimmunität hierzulande würde bei einer sich abzeichnenden deutlich niedrigeren Impfquote in anderen Ländern nur eine begrenzte Wirkung zeigen. Siehe etwa Masern- oder auch Polioausbrüche in Regionen, in denen diese Erkrankungen schon als ausgerottet galten. Somit müssten denn auch unsere Nachbarländer sehr nahe an eine Impfquote von 70 Prozent gelangen.

Risiko und Nutzen abwägen

Nach dem Winton Center der University of Cambridge überwiegt bei Menschen zwischen 20 und 29 Jahren das Risiko einer Vektor-Impfung den Nutzen des Verhinderns einer schweren COVID-19 bei einem niedrigen Inzidenzwert. Dabei wurde bisher nur das Risiko einer Sinusvenenthrombose bei der Impfung mit Vaxzevria® von AstraZeneca mit einer intensivpflichtigen COVID-19 verglichen.

Parameter wie Geschlecht, andere Nebenwirkungen, Spätfolgen einer COVID-19, sowie unterschiedliche Impfstoffe wurden bisher nicht berücksichtigt. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich das individuelle (nicht das gesellschaftliche!) Risiko-Nutzen-Verhältnis bei noch jüngeren Menschen eher in Richtung Risiko verschieben wird.

Auch wenn das Risiko einer Sinusvenenthrombose bei mRNA-Impfstoffen gegenüber Vektor-Impfstoffen um ein Vielfaches geringer ist, ist das Risiko für diese schwere Nebenwirkung auch dort erhöht. Auch andere schwere Nebenwirkungsrisiken werden diskutiert, etwa Myokarditis oder Perikarditis.

Fazit

Wegen der sehr niedrigen Inzidenz schwerer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist durch die Impfung gegen SARS-CoV-2 bei ihnen weder ein hoher individueller Nutzen zu erwarten noch ein hoher Transmissionsschutz. Deswegen sollte eine COVID-19-Impfung für Kinder und Jugendliche nur nach sehr eingehender Risiko-Nutzen-Analyse empfohlen werden. Dabei sollten insbesondere Vorerkrankungen aber auch soziale Faktoren berücksichtigt werden. Bisherige Forschungsergebnisse deuten aber darauf hin, dass selbst bei per Definition „Risikopatienten“, etwa bei Mukoviszidose oder Typ-1-Diabetes, kein deutlich höheres Risiko für einen schweren Verlauf besteht, als bei gesunden Kindern und Jugendlichen.

Für eine Herdenimmunität kommt es wesentlich auf die Akzeptanz der COVID-19-Impfung bei den Älteren an. Die Impfung der Zwölf- bis 18-Jährigen wird hier keine große Rolle spielen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass viele Regionen der Welt nicht ausreichend mit Impfstoff versorgt werden.

Ein sozialer und gesellschaftlicher Druck, wonach Urlaubsreisen, der Besuch der Schule oder Freizeitaktivitäten nur Geimpften möglich sein soll, muss unbedingt vermieden werden, damit die individuelle Impfentscheidung nicht gefährdet wird. Gesellschaftspolitische Entscheidungen wie die Beendigung des Lockdowns an eine Impfung von Kindern und Jugendliche zu koppeln, würde dem ärztlichen Ethos widersprechen.

Der Gastbeitrag ist eine persönliche Äußerung beider Autoren.

Dr. Thomas Maibaum

  • Aktuelle Position: Hausarzt in Rostock; Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern
  • Werdegang: Medizinstudium in Greifswald und Maastricht; Facharzt für Allgemeinmedizin; Lehrbeauftragter der Uni Rostock; Mitglied des Kompetenzzentrums Weiterbildung Mecklenburg-Vorpommern

Dr. Wolfgang Schneider-Rathert

  • Aktuelle Position: Hausarzt in Querum; Sprecher der Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM)
  • Werdegang: Medizinstudium in Göttingen, Basel und Halifax; Facharzt für Allgemeinmedizin; Lehrbeauftragter an der Unimedizin Göttingen und Medizinischen Hochschule Hannover
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