Alt und behindert sein - wie fühlt sich das an?
Wie ist das, wenn ich sehbehindert bin und meine Arme oder Beine nur noch extrem eingeschränkt bewegen kann? An der Uni Erlangen werden Medizinstudenten im Fach Geriatrie für Probleme alter Menschen sensibilisiert.
Veröffentlicht:NÜRNBERG. Mit Ohrstöpsel, Prismenbrille, Baumwollhandschuhen sowie Finger- und Handgelenkschiene gehandicapt, das tragbare Tastentelefon in der Hand und los geht's: "Zuerst musst du deinen Enkel anrufen, dann die Medikamente in den Dispenser füllen", fordert Tutor Dr. Matthias Kaiser die Erlanger Medizinstudentin Andrea Keller auf.
Das ist eine Szene aus dem Praktikum "Instant Aging" im Fach Geriatrie, das mit der Änderung der Approbationsordnung für Ärzte 2002 als Querschnittsbereich "Medizin des Alterns und des alten Menschen" verankert wurde und in Erlangen seit dem Wintersemester 2008/09 auf dem Programm steht. Für die Gestaltung des Pflichtfachs sind die einzelnen Universitäten selbst verantwortlich.
In Erlangen gibt's im neunten Semester eine Blockvorlesung über sieben Tage, in Würzburg zum Beispiel zwei Stunden pro Woche, an einer Klausur kommen die Studenten nicht vorbei.
"Instant aging" - so heißt das Konzept, mit dem die Studenten in diesem Themenblock konfrontiert werden. Nach Hospitation in Ergo- und Physiotherapie gilt es, in vier Stationen Alltagsaktivitäten mit simulierten Behinderungen zu bewältigen. Neben Hör- und Sehbehinderung werden Fingergelenksarthrose, eine linksseitige armbetonte Hemiparese sowie die Bewegungseinschränkung bei Morbus Parkinson hautnah erlebt.
90 Minuten erlebte Hilflosigkeit
Die Idee, Alterssimulation in die Medizinerausbildung zu integrieren und somit Praxisnähe zu vermitteln, hatte Dr. Walter Swoboda, Lehrbeauftragter für Geriatrie an der Universität Würzburg.
90 Minuten erlebte Hilflosigkeit "sollen Verständnis und Einfühlungsvermögen der Studenten für die Bedürfnisse der älteren Patienten wecken", so Swoboda, der auch leitender Oberarzt der Medizinischen Klinik II/Geriatrie am Klinikum Nürnberg Nord ist.
Swoboda und Klinik-Direktor Professor Cornel C. Sieber sind überzeugt: Mit simulierter Selbsterfahrung wird die Empathie gefördert, sie kann auch zu einer Einstellungsänderung führen. Das bedeutet: die Studenten lernen, die Probleme älterer Menschen besser nachzuvollziehen.
"Ich kann die Tablette nicht aus dem Blister drücken", "die Ziffern auf den Telefontasten nicht lesen", "den Hörer mit der Ellenbogenschiene nicht ans Ohr halten", stellen die Kommilitonen im Laufe des Praktikums fest.
Jetzt wird klar, wie es tatsächlich ist, mit eingeschränktem Gesichtsfeld samt Gonarthrose, die mit Hilfe einer beugehemmenden Schiene imitiert wird, Treppen zu steigen. Nun können die Studenten hautnah nachvollziehen, wie es sich anfühlt, wenn alte Menschen wegen visueller Einschränkungen den Stufenabstand nicht einschätzen können.
Gar nicht einfach ist es auch, mit der BWS-Propulsionsschiene überhaupt vom Sitz in den Stand zu kommen oder mit nur einem funktionstüchtgen Arm ein Brötchen aufzuschneiden und mit Marmelade zu bestreichen.
Soziale Isolation und depressive Reaktionen
Und die Konsequenz für den alten Menschen? Aus Angst vor Stürzen wird er immobil, vermuten die Studenten. Osteoporose, Sarkopenie, soziale Isolation, depressive Reaktionen - das sind die Folgen. Man benötigt Hilfe, wird zunehmend unsicherer, traut sich vieles nicht mehr zu.
Swoboda sieht nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung für die geriatrische Forschung und Lehre weiter dringenden Handlungsbedarf. Sein Wunsch für die Zukunft: "Wir brauchen eine flächendeckende Versorgung mit geriatrischen Lehrstühlen!"
Ein Konzept, das Studenten sensibilisiert
Überzeugt vom "Instant-Aging"-Konzept: Dr. Walter Swoboda.
Dr. Walter Swoboda, Lehrbeauftragter für Geriatrie an der Uni Würzburg, hat das Instant-Aging-Konzept mit entwickelt. Ziel des Konzepts: Alterssimulation wird in die Medizinerausbildung integriert, zugleich wird Praxisnähe vermittelt.
Swobodas Kernerfahrung: Die Empathiefähigkeit der Studenten wird mit Hilfe dieser Methode erhöht. Mit simulierter Selbsterfahrung haben künftige Ärzte die Chance, ein vertieftes Verständnis von chronischem Kranksein zu entwickeln.