Das Konzept Unwahrheit
Echt wahr? Schein, Sein, Lüge
Ein bisschen Schwindeln oder unverschämt etwas Falsches sagen - beim Lügen ist die Spannweite groß. Haben notorische Lügner in unserer Gesellschaft die besseren Chancen?
Veröffentlicht:Die Wahrheit hat es in unserer postfaktischen Gegenwart schwer. In den Palästen der Macht wird die Lüge poliert und geschmirgelt, bis sie wahr ist, während man am Wahren so lange kratzt, bis es wie eine Lüge erscheint. Verschleierung ist die Signatur unserer Zeit. Die normative Kraft des Faktischen wird durch die plakative Macht der Fiktion ersetzt. Weltweit zünden Demagogen Nebelkerzen, jagen ihr Volk ins Labyrinth, täuschen es, verwirren es, bis ihre Bürger die Orientierung verlieren, der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen oder sich bei der Suche nach Gewissheiten derart auftreiben, dass sie der Lüge nicht länger widerstehen. Die Erde ist eine Scheibe? So what!
Einige Wahrheiten über die Lüge
Kein Mensch kommt als Lügner zur Welt. Die Fähigkeit zur Täuschung muss er mühsam erlernen. Im Alter von drei oder vier ist sein Gehirn so weit entwickelt, dass er sich in die Gedankenwelt anderer hineinversetzen kann – eine notwendige Voraussetzung, um mit dem Lügen zu beginnen. Noch wirkt das unbeholfen und kaum tauglich, die gewiefte Mama und den mit allen Wassern gewaschenen Papa tatsächlich zu überlisten. Das Kind wird rot, es blinzelt, kratzt sich am Arm und blickt verlegen zu Boden. Je häufiger es aber lügt, desto besser hat es seine Emotionen im Griff. Schon im Alter von sechs führt es nicht nur seine Freunde, Geschwister und Großeltern hinters Licht, sondern oft auch schon seine Eltern.
Alle Menschen lügen. Die meisten sogar mehrmals am Tag. Freunde belügen wir seltener als Fremde, Jugendliche lügen häufiger als Rentner, Frauen öfter als Männer – doch Frauen sagen auch häufiger die Wahrheit, weil sie einfach mehr reden. Menschen lügen eher instinktiv als mit Bedacht. Am Telefon fällt ihnen das leichter, als wenn sie ihrem Gesprächspartner dabei in die Augen sehen. In E-Mails lügen sie leichtfertiger als in Briefen. Bedenkzeit scheint die Wahrheit zu begünstigen, Zeitdruck die Lüge.
Wohlhabende neigen eher zur Lüge als Arme, da sie unabhängiger sind in ihrer weitgehend selbstbestimmten Welt, autonome Entscheidungen treffen und mangels Kontrolle höhere Risiken einzugehen bereit sind. Egoismus empfinden sie als eine durchaus positive Eigenschaft, weil der Eigennutz sie selbst und ihr Unternehmen voranbringt. Gier bewerten Reiche höher als Altruismus, Alleingänge erscheinen ihnen zielorientierter als gemeinschaftliches Handeln.
Die Bereitschaft zur Lüge korreliert mit den Wertvorstellungen eines Milieus. Wenn die Eltern lügen, flunkern auch ihre Kinder. Nehmen es die Freunde nicht so genau mit der Wahrheit, schwindet die eigene Bereitschaft, ehrlich zu sein. Auch in vielen Unternehmen und Institutionen, wird, was nicht nach außen dringen darf, verschwiegen, verschleiert oder weggelogen.
Manche Menschen sind zum Geheimnis – und mitunter zur Lüge – verpflichtet (Ärzte, Anwälte, Beamte), andere ziehen daraus ihren Nutzen, indem sie das Image ihrer Gruppe schützen (Militär, Polizei, Kirche) oder aus der Lüge persönlichen Profit schlagen (Banken, Hedgefonds). Hier wie dort herrscht das Gesetz der Omertà. Gewissensnot gilt als Schwäche, Ehrlichkeit als Verrat. Der Mut zur Wahrheit wird nur selten belohnt. Im Gegenteil: Whistleblower werden diffamiert und kaltgestellt – sie riskieren Verbannung, Gefängnis und mitunter sogar ihr Leben.
Lügen ist anstrengender, als die Wahrheit zu sagen. Wir müssen dabei unsere Gefühle verheimlichen und die Gedanken unseres Gegenübers lesen. Wir müssen unsere Lügen verwalten und zuordnen – wen lüge ich an, und wem sage ich die Wahrheit? Die Anstrengung ist messbar: Wenn wir lügen, ist unser Gehirn aktiver als sonst. Lügen hinterlassen Spuren. Dauerlügner haben ein Viertel mehr weiße Hirnmasse im präfrontalen Cortex als Gelegenheitslügner, umgekehrt 15 Prozent weniger graue Masse. Weiß übermittelt die Informationen, grau verarbeitet sie. Manche Menschen werden krank, wenn sie jahrelang lügen. Der Geist straft den Körper mit typischen Stresssymptomen wie Verspannungen, Kopfschmerzen, Hautrötungen und Bluthochdruck.
Zu lügen lässt sich trainieren. Geübte Lügner überlisten selbst einen Lügendetektor. Der entpuppt sich mitunter selbst als Lügner: wenn er aufrichtige Menschen Schwindler nennt, weil sie aufgrund der Verhörsituation Stresshormone ausschütten. Das nennt man den Othello-Effekt.
Warum Menschen lügen
Ein Lügner geht davon aus, dass ihm die Lüge mehr nutzt als die Wahrheit: weil sie sein Ansehen erhöht, seinen Reichtum mehrt, ihn vor Strafe, Kritik oder Herabsetzung bewahrt. Menschen lügen aus Angst, Not oder Feigheit, Bedenken, Höflichkeit, Rücksichtnahme, Ehrerbietung, Scham oder weil sie schlicht geliebt werden wollen. Selbst wer vorgibt, dass seine Lüge einen anderen schützt, befriedet mit ihr doch letztlich immer auch seine eigene Seele.
Jedermann lügt, doch manche Menschen lügen zwanghaft. Pseudologen kennzeichnet ein übersteigertes Geltungsbedürfnis, das auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung in Folge seelischer Verletzungen oder frühkindlicher Verwahrlosung gründet. Charakteristisch für den pathologischen Lügner sind sein gewinnendes Auftreten, sein gutes Gedächtnis, seine Eloquenz und sein schauspielerisches Talent.
Pseudologen lügen sich in ein Leben, das sie nie gelebt, und erfinden Schicksale, die sie nie geteilt haben. Unter den zwanghaften Lügnern finden sich solche, die behaupten, den Holocaust überlebt, den Krebs besiegt, sich aus der Gewalt von Geiselgangstern befreit oder den Mount Everest bestiegen zu haben. Hochstapelnd geben sie sich als Ärzte, Adlige oder verheimlichte Kinder Prominenter aus. Mitleid heischend flüchten sich zwanghafte Lügner in immer neue Krankheiten, pathologisiert unter dem Begriff Münchhausen-Syndrom.
Seeteufel winkt mit Rückenflosse
Tatsächlich ist die Täuschung eine Grundkonstante der Evolution. Im Tierreich kennen wir sie als Mimikry, Mimese und Somatolyse. Täuschungsmanöver nutzen Tiere und Pflanzen vor allem, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Schwebfliegen ahmen Wespen nach, Tagpfauenaugen imitieren den bösen Blick, Stabheuschrecken verwandeln sich in Äste oder Zweige, und Ringelnattern stellen sich tot, weil die meisten Raubtiere Aas verachten. Umgekehrt täuschen Tiere ebenso, um Beute zu machen. Der Seeteufel beispielsweise ködert Fische, indem er mit dem wurmähnlichen Anhängsel seiner Rückenflosse winkt, Amseln locken mit Trippelgeräuschen, die wie Regen klingen, Würmer aus der Erde. Selbst innerhalb der eigenen Art wird geschwindelt, was das Zeug hält. Ein Schimpanse etwa stößt den Leopardenwarnschrei aus, um seine Artgenossen in die Flucht zu schlagen und sich danach in Ruhe an ihrem Futter gütlich zu tun.
Die Tarnung dient dem physischen Überleben, Täuschungsmanöver zielen auf den Erhalt der eigenen Art. Mickrige Froschmännchen beispielsweise hocken sich mit Vorliebe neben prächtige, eindrucksvoll quakende Konkurrenten, um ihnen das sich paarungswillig nähernde Weibchen wegzuschnappen. Selbst Pflanzen sichern durch Täuschung die eigene Fortpflanzung. Blütenblätter der Ragwurz-Orchidee sehen aus wie Bienenweibchen, fühlen sich mit ihrer Behaarung auch genauso an und sondern darüber hinaus einen Duftstoff ab, der das Pheromon der Bienenweibchen verblüffend nachahmt, weshalb paarungsbereite Männchen all ihre Energie darauf verwenden, die vermeintlichen Weibchen zu begatten, tatsächlich jedoch nur die Blüten der Hodenblume bestäuben.
Die Fähigkeit zur Täuschung, so lehrt uns die Natur, ist eine für das Überleben und die Fortpflanzung vorteilhafte Eigenschaft, weshalb es nicht verwundert, dass der Homo sapiens, höchstentwickeltes Säugetier aus der Ordnung der Primaten, der Unterordnung der Trockennasenaffen und der Familie der Menschenaffen, die Kunst der Täuschung derart perfekt beherrscht. Dabei leisten ihm sein angesichts seiner Körpergröße geradezu riesiges Gehirn, die schier unglaubliche Fülle seiner Nervenzellen sowie die einzigartige Ausprägung seiner Großhirnrinde wertvolle Dienste. Sein Sprachvermögen befähigt ihn zudem zur verbalisierten Lüge – und möglicherweise ist sie es, die conditio humana, die uns Menschen zum erfolgreichsten Säugetier aller Zeiten werden ließ.
Schlanke Rubensfigur
Nicht allein der, der das Gegenteil dessen behauptet, was er als wahr erachtet, ist ein Lügner, sondern auch jener, der eine Information semantisch verschleiert oder verklärt. Wem die Nazis eine Sonderbehandlung zudachten, den gedachten sie zu ermorden, wo die Militärs von Kollateralschäden sprechen, meinen sie getötete Zivilisten, und wenn von ethnischer Säuberung die Rede ist, kaschiert das den Genozid, mindestens aber eine Vertreibung.
Auch im Alltag sind Euphemismen nützlich. Die Rubensfigur verschlankt, wen andere fett nennen, eine Preiskorrektur kaschiert Verteuerung, wer transpiriert, stinkt nicht, und die Tötung eines geliebten Dackels wird erträglicher, wenn wir ihn sanft einschläfern. Zu den semantischen Lügen zählen nicht nur Euphemismen, die aufwerten (Raumpflegerin), mildern (bildungsfern) oder verschleiern (Schutzgeld), sondern auch Abkürzungen wie das F-Wort, Anglizismen wie der Facility Manager, Akronyme wie die ABC-Waffen.
Schelme und Schlawiner
Schließlich verrät sich auch unsere Haltung zum Lügner in unserer Sprache. Schelme schummeln, Schlawiner mogeln sich durch. Wenn der Sohn in trügerischer Absicht behauptet, seine Hausaufgaben längst erledigt zu haben, flunkert er uns an. Menschen, die wir mögen oder achten, sagen, wenn wir sie bei einer Lüge ertappen, die Unwahrheit. Dagegen ist, wessen Nase uns nicht passt, ein Gauner, Schurke oder Halunke – auch wenn seine Lüge leichter wiegt als die des Schlawiners oder Schlitzohrs. Eine besondere Bedeutung hat die Sünde. In unserer säkularisierten Welt ist sie zum Glimpfwort geschrumpft und damit selbst eine Lüge. Naschkatzen, Raser, Falschparker – sie alle sind Sünder. Selbst Millionenbetrüger schonen wir auf diese Weise, sofern sie unsere Idole und Helden sind: Lügende Sportstars, Sänger, Schauspieler, Politiker, Priester und Bischöfe lassen sich mitunter zur Sünde verführen, doch wenn sie bereuen, wollen wir ihnen gern vergeben: Der werfe den ersten Stein!
Dass die Wahrheit letztlich über die Lüge siegt, daran halten wir mit aller Macht fest. Wenn wir uns da nicht täuschen! "Wenn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufriedengeben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten", sinnierte Hannah Arendt bereits vor einem halben Jahrhundert, "was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem vollgültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden?"
Früh übt sich
- Kein Mensch kommt als Lügner zur Welt.
- Die Fähigkeit zur Täuschung muss er zunächst mühsam erlernen.
- Im Alter von drei oder vier Jahren ist sein Gehirn so weit entwickelt, dass er sich in die Gedankenwelt anderer hineinversetzen kann – eine notwendige Voraussetzung, um mit dem Lügen zu beginnen.