Altersdiskriminierung
Gesundheit für alle, nur nicht für die Älteren?
Die Coronavirus-Pandemie hat auch eine Debatte darüber angestoßen, wer geschützt werden soll: Alte oder Junge? Die Diskussion kann manchmal regelrecht verstörend sein – von beiden Seiten.
Veröffentlicht:Berlin. Als vor einem Jahr der damalige US-Präsident Donald Trump allabendlich zur besten Fernsehzeit über seine angeblichen Erfolge im Kampf gegen COVID-19 schwadronierte, da eilte ihm ein treuer Vasall zur Hilfe.
Dan Patrick (70) stellvertretender republikanischer Gouverneur von Texas, richtete mit einem fast zynischen Appell den Fokus auf seine älteren Landsleute: „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich zum jetzigen Zeitpunkt bereit wäre, nach draußen zu gehen und möglicherweise mein Leben dabei zu riskieren, um so die amerikanische Wirtschaft und unseren ,Way of Life‘ für meine Enkelkinder zu sichern, natürlich würde ich dieses Risiko eingehen; und ich glaube, unzählige andere Großeltern in unserem Land würden genauso patriotisch handeln.“
Patrick erntete nicht nur in den USA Empörung. Amerikanische Kinder hätten nichts von Omas und Opas, die im Interesse der Wirtschaft ihr Leben opfern würden, hieß es. Andere Beobachter urteilten härter: Der Texaner stehe für eine Wertewelt, in der wirtschaftliche Prosperität auch um den Preis von Menschenleben zum Maß aller Dinge gemacht werde – die kalte Logik eines auf Profitmaximierung geeichten kapitalistischen Systems.
Besonders schutzbedürftig
„Gesundheit – aber nicht für alle? Sozialdarwinistische Diskurse in Zeiten von Corona“ – dieses Thema einer Veranstaltung beim Kongress „Armut und Gesundheit“ richtete den Fokus auf den Generationenkonflikt: Senioren gehen freiwillig in den Tod, damit die Wirtschaft brummt und jüngeren Menschen nicht die Zukunft verbaut wird: Wäre eine derartig zynische Forderung in der Corona-Debatte auch in Deutschland denkbar?
Der Wiener Soziologe und Altersforscher Andreas Stückler empfahl, genauer hinzusehen. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie verursachten enorme gesellschaftliche und ökonomische Schäden, sagte Stückler, und Eindämmungs-Entscheidungen würden primär mit dem Schutz vulnerabler Gruppen begründet.
Inwieweit stimmt vor diesem Hintergrund die These, dass Hochaltrige, Pflegebedürftige und Gebrechliche als besonders schutzbedürftig gelten, dass sie in unserer Gesellschaft von einer Welle der Solidarität erfasst werden und in der Coronakrise Prioritäten genießen?
Sie sei falsch, argumentierte beim Kongress Rebecca Maskos, Psychologin und Journalistin von der Universität Bremen. Zunehmend werde im gesellschaftlichen Diskurs die Auffassung vertreten, dass insbesondere Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung eine Belastung für die Gesellschaft seien. Dabei gewinnt aus ihrer Sicht eine zentrale Frage immer mehr an Bedeutung: „Lohnt es sich überhaupt, Alte und Schwache zu schützen?“
Werden die „falschen“ gerettet?
Im vergangenen Jahr hatte Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, im SAT-1-Frühstücksfernsehen mit irritierenden Thesen für Aufregung gesorgt: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“, analysierte er. Palmer entschuldigte sich hinterher für seine Einschätzung. Er habe niemanden verletzen wollen.
Auch der Satiriker Schlecky Silberstein sah sich mit einem Video, das auf der Online-Plattform „funk“ von ARD und ZDF zu sehen war, gründlich missverstanden: „Die Pandemie, heißt es in diesem vermeintlichen (?) Satire-Beitrag, sei ein „schöner und sinnvoller Reflex der Natur“. Schließlich erwische es in erster Linie alte Menschen.
Und dass die daran stürben, das sei nur gerecht. Denn es sei ja schließlich die Generation 65 plus, die diesen „Planeten voll gegen die Wand gefahren“ habe. Das Virus, heißt es im Video weiter, habe eigentlich nur gute Seiten: „Es rafft die Alten dahin, aber die Jungen überstehen diese Infektion nahezu mühelos.“
„Boomer Remover“
Im vergangenen Jahr wurde der Begriff „Boomer Remover“ zum Synonym für das Coronavirus in den sozialen Medien: COVID-19 wird dabei als „Remover“, als „Beseitiger“ verstanden, der die ältere Generation auslöscht. Hier die (Baby)-Boomer, die Älteren, die zwischen 1946 und 1964 das Licht der Welt erblickten, dort die Jungen, die zwischen den frühen 1980er und späten 1990er Jahren Geborenen.
Den Verlauf der Frontlinien erklärt die „Neue Zürcher Zeitung“ so: „Die Jungen fürchten sich vor der Erderwärmung und werfen den Alten Ignoranz, Untätigkeit, verknöchertes Denken und hemmungslosen Konsum vor. Die Alten hingegen meinen, die Jungen übertrieben mit ihrer Klima-Angst, seien überempfindlich, furchtbar moralisch und sollten überhaupt erst einmal richtig arbeiten gehen.“
Zielscheibe generationellen Hasses
„Eine Generation, die einst mit dem Slogan ‚Trau keinem über 30‘ gefahrlos gegen ihre Väter und Großväter rebelliert hatte, ist selbst zur Zielscheibe des generationellen Hasses geworden“, kommentierte „Die Presse“ in Österreich.
Die Frage, ob Alte oder eher Junge geschützt werden müssen, werde auch in der Debatte um die medizinische Versorgung deutlich, erläuterte Altersforscher Stückler.
Er nannte als Beispiel eine Triage-Empfehlung der italienischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimations- und Intensivmedizin zu Beginn der Pandemie im vergangenen Jahr: Ressourcen, bei denen erhebliche Knappheit eintreten könnten, seien zunächst für Menschen zu reservieren, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hätten, heißt es dort.
Und diese Vorgabe müsse auch für Patienten gelten, die mehr Jahre geretteten Lebens erreichen könnten – „mit Blick auf eine Maximierung des Nutzens für die größte Anzahl der Personen“.
Welche Rolle die Sprache spielt
Das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) zeigt in einer aktuell veröffentlichten Kurzbefragung über Altersdiskriminierung in der Pandemie, dass mit zunehmendem Alter der Anteil der Menschen ansteigt, die angeben, in der medizinischen Versorgung und im Alltag wegen ihres Alters benachteiligt worden zu sein. „Schuldzuweisungen für die Pandemie und ihren Konsequenzen, ob sie nun an jüngere oder ältere Menschen gerichtet sind, sind grundsätzlich falsch“, warnt das DZA.
Politik und Medien müssten dieser Entwicklung entschieden entgegentreten. Zugleich weist die Organisation darauf hin, dass es Altersdiskriminierung auch schon vor der Pandemie gegeben habe, sie lasse sich keineswegs nur auf die Corona-Krise zurückführen.
Deshalb benötigten politische und gesellschaftliche Initiativen gegen Diskriminierung Ausdauer. Sie müssten, wenn sie nachhaltig erfolgreich sein sollen, bis weit nach dem Ende der Pandemie fortgesetzt werden, fordert das DZA.
„Wir müssen vermeiden, dass alte Menschen zum Sündenbock in der Krise gemacht werden“, warnte beim Kongress der Altersforscher Stückler. Ob sich Alt und Jung mit Respekt begegnen, sich als Last oder als Bereicherung definieren, das entscheide sich im alltäglichen Umgang. Stückler: „Es muss gerade in der Corona-Krise eine Sprache gefunden werden, die die Verantwortung füreinander zum Maßstab macht.“