Ärzte ohne Grenzen
Hilfe auch in Seenot
Die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer haben Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen zu einem neuen Betätigungsfeld getrieben: die Seenotrettung.
Veröffentlicht:BERLIN. Mehr als 50.000 Flüchtlinge hat die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) in den vergangenen zweieinhalb Jahren bei ihrer Flucht über das Mittelmeer gerettet. Insgesamt sind nach Angaben der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) seit 2015 rund 20 Boote von Nichtregierungsorganisationen auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtlinge vor dem brutalen Ertrinken zu retten. Der Grund für ihren Einsatz: die steigenden Flüchtlingszahlen gepaart mit einer Abspeckung der Hilfsmaßnahmen durch die EU.
So wurde 2014 das umfassende italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum beendet und durch Frontex Plus ersetzt – eine Mission unter dem Dach der EU-Grenzschutzagentur, die allerdings mit weniger Geld ausgestattet ist.
Für Ärzte ohne Grenzen ist die Ausweitung ihres Betätigungsfeldes unumgänglich: "Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab werden", betonte Tankred Stöbe, Mitglied des Internationalen Vorstands der Hilfsorganisation, auf der Frühjahrskonferenz von MSF in Berlin.
Was eigentlich nicht die Aufgabe von Ärzte ohne Grenzen sei, hält Stöbe vor dem Hintergrund immer mehr ertrinkender Flüchtlinge für unumgänglich. 2016 sei das bislang tödlichste Jahr gewesen – nach Angaben der Vereinten Nationen überlebt einer von 47 Flüchtlingen, die über das zentrale Mittelmeer von Libyen nach Italien kommen, die Flucht nicht.
Den bisweilen geäußerten Vorwurf, Seenotrettung sei ursächlich für die Flucht von Menschen, hält David Kipp, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Globale Fragen an der SWP, für falsch. "Seenotrettung ist nicht ursächlich für Flucht", betonte Kipp auf der Konferenz.
Erfahrungsberichten von MSF- Mitarbeitern zufolge, die auf Booten der Hilfsorganisation arbeiten, ist der psychische und physische Zustand der Flüchtlinge katastrophal. Viele von ihnen sind ausgetrocknet, unterkühlt und leiden an Verbrennungen und Hauterkrankungen, berichtete die Krankenpflegerin Heidi Anguria per Videobotschaft von einem Rettungsboot. Ein Großteil der Frauen sei auf dem Weg der Flucht vergewaltigt worden und befände sich ungewollt schwanger auf den Booten der Schlepperbanden. Ein Viertel der Flüchtlinge sei jünger als 18 Jahre, mehr als 80 Prozent reisen Anguria zufolge ohne Begleitung ihrer Eltern.
Besonders prekär ist nach Angaben von Almaz Zerai, Internistische Onkologin aus der Schweiz, die Situation eritreischer Flüchtlinge. Neben Flüchtlingen aus Nigeria kamen 2016 die meisten Flüchtlinge auf der Mittelmeerroute aus Eritrea. Der Grund: "Eritrea ist ein instabiles Land ohne Rechtssystem und stabile Strukturen", berichtete die gebürtige Eritreerin. Die meisten Menschen, die von dort nach Europa flüchten, seien seelisch und körperlich kaputt.