Flüchtlingsversorgung

Helfen vor der Küste Libyens

Zwölf Tage lang versorgte der Mainzer Arzt Gerhard Trabert auf einem Rettungsschiff vor der Küste Libyens Flüchtlinge. Viele Männer sind dabei, aber auch Frauen, manche von ihnen schwanger, und Kinder.

Von Anne Zegelman Veröffentlicht:
Auf der "Sea-Watch 2" versorgt der Mainzer Arzt eine Patientin, die aus einem Flüchtlingsboot gerettet wurde.

Auf der "Sea-Watch 2" versorgt der Mainzer Arzt eine Patientin, die aus einem Flüchtlingsboot gerettet wurde.

© Gerhard Trabert

MAINZ. Mit beiden Händen hält Gerhard Trabert den Feldstecher. Konzentriert blickt er durchs Okular, der Mund ist vor Anspannung leicht geöffnet. Zentimeter für Zentimeter sucht Trabert den Horizont ab - jene Linie, in der das helle Blau des Himmels ins dunkle, wankende Blau des Meeres übergeht.

Er ist erschöpft, aber er darf nicht nachlassen, nicht unaufmerksam werden. Übersieht er einen winzigen Punkt in der Ferne, könnte das für einige dutzend Menschen ein Todesurteil sein.

Immer mehr Menschen wagen die riskante Überfahrt

Zwölf Tage lang ist der Mainzer Sozialmediziner Professor Gerhard Trabert mit der "Sea-Watch 2" in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens auf der Suche nach Flüchtlingsbooten.

Denn noch immer wagen Menschen Tag für Tag die riskante Überfahrt auf instabilen, lecken und überfüllten Booten in der Hoffnung, es bis zur italienischen Insel Lampedusa zu schaffen. Viele Männer sind dabei, aber auch Frauen, manche von ihnen schwanger, und Kinder.

Die Schwere der Verantwortung

Trabert spürt die Schwere der Verantwortung. Und er nimmt seine Aufgabe sehr ernst. "Ich bin ein wenig seekrank", sagt der 59-Jährige aus Selzen bei Mainz. Doch ein Medikament gegen die Übelkeit will er erst einmal nicht nehmen - aus Angst, davon schläfrig oder unaufmerksam zu werden und womöglich ein Boot zu übersehen. Stattdessen ist ein Eimer in den ersten Tagen auf dem schwankenden Schiff sein ständiger Begleiter.

Trabert ist zum zweiten Mal mit einem Boot der unabhängigen Initiative Sea-Watch unterwegs. Die "Sea-Watch 1", auf der er im vergangenen Jahr vor Lampedusa als Arzt half, musste wegen eines Motorschadens aufgeben. Damals konnte sie aufgrund der technischen Schwierigkeiten einem Flüchtlingsboot in Not nicht helfen, die Hälfte der Menschen ertrank. Eine Tragödie, die Trabert noch heute spürbar nahe geht.

Die Crew der "Sea-Watch 2" besteht aus 16 Männern und Frauen, das neue Schiff kann bis zu 120 Flüchtlinge aufnehmen. Neben Trabert kümmern sich noch eine Kinderärztin und ein Rettungsassistent um die medizinische Erstversorgung der Geflüchteten, die an Bord kommen.

Manche Wunden sind äußerlich nicht sichtbar

Die Frauen in den Flüchtlingsbooten, die Kinder dabei haben, strecken den Helfern an Bord der "Sea-Watch 2" als erstes die Kleinen entgegen. Eine Geste, die Trabert immer wieder rührt. "Sie zeigt: Hauptsache, mein Kind ist in Sicherheit." Generell sind es die Kinder, die den engagierten Arzt immer wieder am meisten beeindrucken: "Sie kommen erschöpft, aber sehr resilient."

Die Wunden, die zu versorgen sind, sind manchmal sichtbar, manchmal nicht. Manche der Passagiere sind vor der Überfahrt von den Schleppern an Bord geprügelt worden, weil sie beim Anblick der unsicheren Flüchtlingsboote Bedenken bekamen, berichtet Trabert. Andere müssen gegen Meerwasserintoxikation oder Verätzungen behandelt werden: "Auf dem Boden der Boote bildet sich ein aggressives Gemisch aus Urin, Benzin und Salzwasser, das zu Hautinfektionen führt."

Die "Sea-Watch 2" ist mit umfassender Ausrüstung, aber wenigen medizinischen Geräten unterwegs. "Wir haben verschiedene Formen von Infusionen dabei und die Standardmedikamente intravenös und oral", zählt Trabert auf. Dazu Salben, Verbände, ein Geburtsset, Pulsoximeter, einen Defibrillator.

Viele Frauen werden auf der Flucht vergewaltigt

"Als nächstes wollen wir ein kleines Ultraschallgerät anschaffen", sagt Trabert. Denn viele der Schwangeren, die an Bord kommen, sind tief besorgt, weil sie keine Kindsbewegung mehr spüren. Eine Sorge, die der Arzt bei einem früheren Hilfseinsatz im griechischen Idomeni ebenfalls immer wieder erlebte. Doch warum gibt es so viele Schwangere unter den Flüchtlingsfrauen? "Wir vermuten, dass viele auf der Flucht vergewaltigt wurden", sagt der Arzt schlicht.

Lange bleiben die Flüchtlinge nicht an Bord der "Sea-Watch 2". Nach der Rettung und Erstversorgung werden sie auf Boote anderer Organisationen umverteilt und ans europäische Land gebracht. Die "Sea-Watch 2" bleibt auf dem Meer und sucht weiter nach den altersschwachen, oft seeuntauglichen Gefährten, mit denen Schlepperbanden die verzweifelten Passagiere für viel Geld und ohne Rettungswesten von Libyen aus losschicken. Manche von ihnen haben stattdessen bunt bedruckte Kinderrettungsringe dabei.

Schichtplan für den Feldstecher

Die "Sea-Watch 2", die gemeinsam mit zahlreichen Schiffen anderer Nichtregierungsorganisationen bereitsteht, um humanitäre Hilfe zu leisten, bekommt Hinweise von der Rettungsleitstelle in Rom oder von anderen Booten. Und dann ist da ja noch der Feldstecher, für den es einen Schichtplan gibt.

Oft sind es nur kleine Striche am Horizont, die es zu finden gilt. Die hellen Schlauchboote reflektieren in der Sonne, Holzboote sind schwerer zu sichten, weil sie oft dunkler sind, erklärt Trabert. Morgens um sechs entdeckt er durchs Fernglas ein Boot und schlägt Alarm - schnell schickt der holländische Kapitän William den verzweifelten Menschen Hilfe und Rettungswesten.

Vier Rettungseinsätze gibt es in den zwölf Tagen von Traberts Aufenthalt an Bord, häufig in den frühen Morgenstunden, weil die Schlepper die Boote gerne im Schutz der Dunkelheit kurz vor Mitternacht losschicken.

Glück empfindet der Arzt nur in der direkten Begegnung mit den Menschen

29 Flüchtlinge können dank Traberts Aufmerksamkeit an diesem Morgen gerettet werden. 29 Leben, die ohne seinen gewissenhaften Einsatz wohl verloren gewesen wären. "William hat später zu mir gesagt, dass wir dieses Boot anders als durch den Feldstecher wohl nicht entdeckt hätten, da es zu klein für den Radar war. Dann wäre es hinaus aufs offene Meer getrieben", erklärt Trabert mit ruhiger Stimme, aus der viel Anteilnahme spricht.

Ein Gefühl der Befriedigung spüre er trotzdem nicht: "Glück empfinde ich nur in der direkten Begegnung mit den Menschen: Sie geben mir meine Würde zurück, die ich als Europäer aufgrund des würdelosen Verhaltens Europas verloren hatte."

Für die "Sea-Watch"-Helfer gibt es ein Briefing jeweils vor und nach dem Hilfseinsatz, bei dem auch mit einem Traumaexperten gesprochen werden kann. "Wir wurden vorher gefragt, ob wir auch bereit wären, bei der Bergung von Leichen zu helfen", sagt Trabert. "Dreiviertel des Teams hat ,ja‘ angekreuzt."

Übrigens: Ein SWR-Journalist begleitet Traberts Einsatz auf der "Sea-Watch 2". Seinen halbstündigen Film "Der Schiffsarzt - Flüchtlingsretter auf hoher See" im Format "Mensch Leute" zeigt der SWR am Montag, 12. September, um 18.15 Uhr.

Lesen Sie dazu auch: Modellprojekt: Ein Dorf nur für Geflüchtete

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