Flickschusterei in Fukushima
Irrer Kampf gegen das radioaktive Wasser
300 Tonnen kontaminiertes Wasser fließen täglich aus der Atomruine in Fukushima in den Pazifik. Japans Regierung will die Lecks nun stopfen - eine Managementkrise.
Veröffentlicht:TOKIO/TAIPEI. In den vergangenen Wochen sorgten Lecks an dem am 11. März 2011 durch Erdbeben und Tsunami havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im Nordosten Japans fast täglich rund um die Welt für Schlagzeilen - vor allem, als bekannt wurde, dass seit der Zeit täglich Hunderte Tonnen verseuchten Wassers in den Pazifik fließen.
Trotz der Kritik aus dem In- und Ausland sagte Shunichi Tanaka, der Chef der japanischen Atomregulierungsbehörde, am Montag bei einer Pressekonferenz, dass die Einleitung schwach kontaminierten Wassers in den Pazifik weiter eine Option sei, um den radioaktiv verseuchten Wassermassen im havarierten Meiler beizukommen.
Tanaka scheint Aufregung für übertrieben zu halten
Rund um die Welt würden Atomkraftwerke bei Normalbetrieb schwach verstrahltes Wasser innerhalb der Sicherheitsstandards ins Meer entlassen, im Falle von Fukushima müsse Japan dies aber der internationalen Gemeinschaft mitteilen.
Leicht genervt fuhr er fort: "Als ich Kind war, hieß es, wenn Du bei Regen keinen Hut aufsetzt, dann fallen Dir die Haare aus."
Er erklärte, dass damals aufgrund der oberirdischen Atomwaffentests in den 1950er und 1960er Jahren die Verstrahlung der Luft um mehrere zehntausendmal höher gewesen als infolge von Fukushima.
Die Hintergrundstrahlung sei seither weltweit erhöht. Mit anderen Worten: Er scheint die Aufregung für übertrieben zu halten.
Die Fischer vor Ort sehen das freilich anders. Dort sind immer noch Fangverbote in Kraft. Um ihre Aufhebung zu prüfen, sollte im Herbst ein Testfischen stattfinden.
Doch es wurde verschoben, als vor einigen Wochen bekannt wurde, dass seit über zwei Jahren kontaminiertes Grund- und Kühlwasser ins Meer fließt - täglich 300 Tonnen, schätzte die Regierung.
Dabei vermischt sich in die Anlage einströmendes Grundwasser mit radioaktivem Reaktorenkühlwasser und wird dadurch so verstrahlt, dass es in Tanks aufbewahrt werden muss.
Jetzt greift die Regierung ein
Nach der Pannenserie scheint der Regierung nun der Kragen geplatzt zu sein - jedenfalls vordergründig.
Einen Tag nach Tanakas Pressekonferenz verkündete Premierminister Shinzo Abe, dass die Regierung nun die Kontrolle über die Lösung der "Wasserkrise" übernehmen wolle, weil es der ohnehin seit letztem Jahr quasi verstaatlichte Stromkonzern Tokyo Electric Power Company (Tepco) allein nicht schaffe.
Dafür würden nun umgerechnet 360 Millionen Euro aus öffentlichen Geldern bereitgestellt.
Kritiker wundern sich über den Zeitpunkt des Eingreifens und unterstellen Image-Pflege. Denn am 7. September werden die Olympischen Spiele 2020 vergeben, für die sich Tokio beworben hat.
Außerdem ist nur noch ein Atomreaktor derzeit am Netz - und die Regierung will die ruhenden Meiler bald wieder anfahren.
Ein Großteil der Steuergelder soll darin investiert werden, das Erdreich um die Reaktoren eins bis vier herum zu vereisen, damit dort kein Grundwasser mehr eindringen kann - eine Technik aus dem Tunnelbau, die bisher nie in einer solchen Größenordnung und unter vergleichbaren Bedingungen eingesetzt wurde.
Des Weiteren wird die Wasserrecyclinganlage "Alps" (Alpen) aufgerüstet. Sie soll dann in der Lage sein, 62 radioaktive Elemente herauszufiltern.
Beide Maßnahmen sollen die Menge an kontaminiertem Wasser verringern, da auf dem AKW-Gelände der Platz für neue Tanks knapp wird und über 80 Prozent bereits voll sind.
Sofern sie nicht, wie kürzlich herauskam, undicht sind und ihr Inhalt ins Erdreich sickert. 300 Tonnen stark kontaminiertes Wasser gelangten so in die Umwelt - Grund genug für Stufe 3 auf der INES-Skala zur Einstufung von Atomunfällen. In die höchste Stufe 7 fielen bisher Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011.
Tepco übergeht Empfehlungen
Abe betonte, "anders als bisher" wolle man die schrittweise Stilllegung der Anlage, die sich über 40 Jahre erstrecken wird, nach einem "grundlegenden Plan" angehen, anstatt für jedes neue Problem eine Ad-hoc-Lösung zu finden.
Damit spielte er auf die Maßnahmen der Betreiberfirma Tepco an, die bereits der Chef der Regulierungsbehörde am Montag für ihre Überbrückungslösungen abgekanzelt hatte. Schriftlich zugestellte Empfehlungen der Behörde habe der Betreiber häufig übergangen.
Tanaka beklagte außerdem, dass Tepco gemessene Strahlung in den falschen Einheiten angebe und die Medien die Zahlen nicht richtig einzuordnen wüssten. Als Beispiel nannte er die Nachricht von hohen Tritiumwerten im kontaminierten Wasser, das in den Pazifik gelaufen sein soll.
Damals nannte Tepco den Wert 20 bis 40 Milliarden Becquerel. "Das klingt wie eine hohe Zahl", sagte Tanaka. "Aber ich habe das selbst einmal nachgerechnet. Das entspricht 35 Gramm Tritium."
Er fügte hinzu, dass er die Situation nicht kleinreden wolle, aber dafür sorgen wolle, dass Messeinheiten richtig verwendet würden - vom Betreiber wie von den Medien.
Ob die "Eismauer" Tritium und andere gesundheitsgefährdende Stoffe nun innerhalb des Reaktorgeländes hält, daran zweifeln viele. Die Arbeiten daran sollen erst bis März 2015 abgeschlossen sein. Doch bis dahin gelangt weiter Strahlung ins Meer und wird von dort weltweit verbreitet.
Demos gegen Atomkraft
AKW-Gegner im Westen der USA sprechen von mehr Erkrankungen der Schilddrüse bei Kindern seit Fukushima und einem mysteriösen Kindersterben.
Auch im Nippon benachbarten Taiwan, das - nur halb so groß wie Bayern - über sechs Reaktoren verfügt, wachsen die Sorgen vor einem Unfall im eigenen Land.
Vehemente Demonstrationen gegen den laufenden Bau eines weiteren Reaktors halten an. AKW-Gegner versuchten Anfang August, ein Referendum durchzusetzen, das den Bau verhindern könnte. Es kam sogar zu einem Gerangel im Parlament deswegen.
Nach der Fukushima-Katastrophe gingen in Taiwan - anders als in Japan - Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Atomkraft zu demonstrieren.
Die deutsche Vertretung hält kommenden Dienstag eine Informationsveranstaltung dazu ab, wie man sich bei einem Reaktorunfall in Taiwan verhalten soll.
Ärzte diskutieren über Strahlenfolgen
Sind die Sorgen um die Gesundheit berechtigt? Oder, wie Tanakas Anekdote zu belegen scheint, übertrieben?
Der Arzt und Schilddrüsenexperte Dr. Fumito Akasu, der in Tokio eine Praxis betreibt, sagte, es fehlten Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Fukushima-Katastrophe. In seiner Praxis habe er bisher zu wenige Daten vorliegen, um sich einen fundierten Eindruck verschaffen zu können.
Die Radiologin Dr. Hisako Sakiyama, die zum offiziellen Untersuchungskomitee des Parlaments über die Ursachen des Atomunfalls in Fukushima gehörte - dort war sie für das Thema der Auswirkung der Strahlung auf die Gesundheit zuständig -, sagte der "Ärzte Zeitung": "Man kann die Möglichkeit nicht leugnen, dass selbst bei niedriger Strahlung die Krebsfälle mit zunehmender radioaktiver Dosis steigen, und auch andere Krankheiten entsprechend zunehmen."
Ausgehend von der bisherigen Grundlagenforschung glaube sie aber nicht, dass sich gesundheitliche Folgen von Fukushima schon in den nächsten fünf Jah-ren eindeutig zeigen werden, sondern eher in den nächsten zehn Jahren oder Jahrzehnten.
Doch erst dann zu reagieren, sei zu spät. Denn schon jetzt werde an ihrem Institut ein häufiges Auftreten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern beobachtet, "aber es ist noch zu früh, daraus Schlüsse zu ziehen".
Deswegen sei es angebracht, jetzt sensible Personen wie Schwangere und Kinder unter besonderen Schutz zu stellen.
Mehr Schilddrüsenkrebs bei Kindern?
Die Ärztin scheut sich nicht, Kritik am Staat zu üben: "Es werden in verschiedenen Präfekturen Untersuchungen durchgeführt, aber sie werden unter der Annahme durchgeführt, dass die Strahlung keine Auswirkung hat."
Von jetzt an würden regelmäßig Folgeuntersuchungen stattfinden, aber Schlussfolgerungen würden daraus wohl keine gezogen werden, glaubt Sakiyama.
Denn auch nach Tschernobyl habe die dortige Regierung noch immer nicht anerkannt, dass es mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern aufgrund des Atomunfalls gegeben habe.
Auch der Epidemiologie-Professor Toshihide Tsuda von der Universität Okayama sagte gegenüber der "Ärzte Zeitung", dass es gegenwärtig schwer sei, etwas über die Entwicklung von Krebserkrankungen infolge des Unfalls in Fukushima zu sagen.
Man wisse jedoch von Untersuchungen nach Tschernobyl, dass nach einer nur geringen Zunahme kurz danach die Zahlen vier Jahre später sprunghaft anstiegen.
"In Hiroshima und Nagasaki nehmen abgesehen von Blut-krebs auch andere Krebsfälle noch bis heute ständig zu", fügt er hinzu.
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