Die Welt nach COVID-19

„Unsere Verletzlichkeit haben wir selbst erschaffen“

Die Wiener Psychotherapeutin und Ärztin Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger hat das Buch „Startklar. Aufbruch in die Welt nach COVID-19“ geschrieben. Sie glaubt, dass Corona die Welt menschlicher machen wird. Warum, dass erklärt sie im Interview mit der „Ärzte Zeitung“.

Von Madlen Schäfer Veröffentlicht:
Innerhalb von drei Tagen schrieb Professor Dr. Martina Leibovici-Mühlberger ihre Beobachtungen nieder.

Innerhalb von drei Tagen schrieb Professor Dr. Martina Leibovici-Mühlberger ihre Beobachtungen nieder.

© Lukas Beck

Ärzte Zeitung: Wie haben Sie selbst die Corona-Krise erlebt?

Prof. Martina Leibovici-Mühlberger: Sehr intensiv arbeitend. Von einem Chilldown habe ich nichts gemerkt. Ich habe während des Lockdowns eine Hilfe-Hotline für Familien und Jugendliche organisiert. Außerdem brauchten viele meiner Patienten noch mehr Beratung als sonst. Als Familie sind wir allerdings wieder etwas mehr zusammengerückt. Auch bei vielen anderen Menschen ist der Gemeinschaftswert spürbar geworden. Konsum rückte in den Hintergrund, niemanden umarmen zu können – das war ein Problem. Es könnte der Ansatzpunkt einer Wende sein. Aber die Zivilisation braucht für so etwas Zeit.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich die Welt durch Corona für immer verändert hat. Was hat sich unumkehrbar gewandelt?

Das werden wir sehen, es ist ein working progress. Aber die alte Normalität gibt es nicht mehr. Abstand, Masken, Distanz, Vorsicht und Gefahr sind die Bestandteile dieser neuen Normalität. Innerhalb der Gesellschaft gibt es zwei Stränge, wie Menschen damit umgehen: die Verleugner, die sich etwa trotz Corona umarmen, und in unterschiedlichen Abstufungen Beängstigte, die in Extremfällen zum Beispiel seit März ihre Wohnung nicht verlassen haben. Generell muss sich das Grundaussehen unserer Zivilisation verändern, ansonsten kommt es gegebenenfalls zu einer anderen Pandemie.

Hatten Sie als Ärztin und Psychotherapeutin einen anderen Blickwinkel auf die Krise?

Der Mensch braucht die Gemeinschaft. Ich finde es beängstigend, wenn die Zukunft der Menschen von Angst getrieben wäre. Es wäre eine trennende Gesellschaft. Genauso ist es wichtig, dass Kritik weiter möglich ist. Corona bietet Möglichkeiten des Missbrauchs. Bringen Masken wirklich etwas oder ist der Schaden auf personeller Ebene vielleicht höher? Wenn solche Punkte nicht mehr kritisch diskutiert werden können, dann gehen wir in die Richtung einer Ideologie.

Es hat gezeigt, dass der Hippokratische Eid etwas wert ist. Es ist eine Identität, kein Job, denn Arzt bleibt man jederzeit.

Wie hat Ihrer Meinung nach COVID-19 das Leben von Ärzten und Ärztinnen beeinflusst?

Dramatisch. Jene Kollegen, die an der Front waren, zum Teil ihr Leben gelassen haben, verdienen meinen höchsten Respekt. Sie haben weitergearbeitet und damit eine Ansteckung und im Zweifel das eigene Leben riskiert. Es hat gezeigt, dass der Hippokratische Eid etwas wert ist. Es ist eine Identität, kein Job, denn Arzt bleibt man jederzeit.

Sie schreiben, Corona sei zwar als medizinische Katastrophe in Erscheinung getreten, tatsächlich sei es aber eine ideelle Krise. Warum?

Die Corona-Krise hat das Fehlverhalten unserer Zivilisation offenbart. Wir haben uns von unserer eigentlichen Natur entfernt. Dieser Lockdown war wie der Schlussstein in einem Bogen. Wir brauchen nicht noch 30 Jahre warten auf die Klimakatastrophe. Die Natur schlägt den, der meint, er ist der Allergrößte. Es ist die klassische David und Goliath Geschichte. Es ist unsere Maßlosigkeit. Wir bewegen uns um den kompletten Globus. Diese Bewegung führt vermehrt zu Schnittstellen. Der Mensch drängt immer weiter vor in Bereiche, die normalerweise nicht aufeinandertreffen würden. Dazu haben wir eine Lebensform in der Zivilisation geschaffen, die Tiere ganz zurückdrängt. Unsere Verletzlichkeit haben wird selbst erschaffen.

Vor uns liegt eine schwierige Zeit. Inwiefern sehen Sie in der Krise trotzdem auch eine Chance für eine humanistische Weltrevolution?

Ich erlebe viele Menschen, die sagen, wo es jetzt hingehen könnte etwa China, das finde ich nicht gut. Es gibt diese Tendenz zum Kontrollstaat. Es heißt: „Wenn Unrecht zu Recht wird, dann wird der Widerstand zur Pflicht.“ Die Frage ist: Wie wollen wir leben? Durch Corona hat diese Frage an Brisanz bekommen und ist nicht länger ein Hintergrundgeräusch. Ich sehe die Zukunft positiv und glaube an eine humanistische Zukunft.

Wie wird Ihrer Meinung nach die Welt nach Corona aussehen?

Corona wird uns noch einige Jahre beschäftigen. Gebe es einen zweiten Lockdown, wäre dies für die Wirtschaft nicht schaffbar, ökonomisch würde es dann an das Eingemachte gehen. Aber auch psychologisch würde es für die Menschen eng werden, erneut eingesperrt zu sein. Ich würde mir einen Antrieb zur globalen Energiewende und eines weltweiten Miteinanders wünschen. Es benötigt organisatorische Strukturen, um Pannen künftig zu vermeiden, etwa durch eine Art Weltgemeinschaft für Pandemie. Es soll nicht um Kontrollen gehen vielmehr darum, Grenzen gemeinsam auszuverhandeln.

„Startklar - Aufbruch in die Welt nach COVID-19“, ISBN-13 : 978-3990014165, Gebundene Ausgabe: 160 Seiten

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