Forschungsprojekt zeigt

Wie Ärzte in der Nazi-Zeit versagten

Die Landesärztekammer Hessen hat ein Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, das Klarheit schaffen soll: Wie verhielten sich Ärzte in der Nazizeit? Ein erster Zwischenbericht liefert unrühmliche Ergebnisse.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Dokument aus einer Zeit, die kein Ruhmesblatt war.

Dokument aus einer Zeit, die kein Ruhmesblatt war.

© Ärzteblatt für Hessen

FRANKFURT AM MAIN. Die Mär, dass sich die meisten deutschen Ärzte von den Nationalsozialisten bloß verführen ließen, hält sich hartnäckig. Sie erwächst aus einer anderen Legende, die das Böse personifiziert und ausschließlich Hitler und seiner Führungsriege die Schuld an den Verbrechen der Nazis zuschreibt.

Solche Behauptungen will Dr. Siegmund Drexler, Vorsitzender des Beirats des Forschungsprojekts "Geschichte der Landesärztekammer Hessen", durch Fakten widerlegen: Beispielsweise waren 53,2 Prozent (mit Anwärtern sogar 63,6 Prozent) aller hessischen Ärzte Mitglieder der NSDAP und jeder vierte Mediziner in der SA.

"Das waren nicht nur Befehlsempfänger oder Verführte", stellt Drexler klar. "Die Medizin war ein Fundament des nationalsozialistischen Staates."

Geschichte der Kammer Hessen

Das Forschungsprojekt zur Geschichte der Landesärztekammer startete am 1. April 2014 und ist auf zwei Jahre angelegt.

Zwischenergebnisse sind zum 118. Ärztetag in Frankfurt am Main Mitte Mai veröffentlicht worden.

Die Studie soll bis zum 31. März 2016 abgeschlossen sein und dann als Buch erscheinen.

Der 65-jährige Internist und Kardiologe, der vor einem Jahr seine Praxis in Mühlheim bei Offenbach aufgegeben hat, als Drogen- und Suchtbeauftragter der LÄK Hessen jedoch noch immer aktiv ist, hat das Forschungsprojekt initiiert. Es stellt eine Pionierarbeit dar.

Hessen als Vorreiter

Denn tatsächlich ist der hessische Verband der bundesweit erste, der seine Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten lässt - von der Vorgeschichte der organisierten Ärzteschaft in Hessen Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Gründung der LÄKH als Körperschaft öffentlichen Rechts im Jahr 1956.

Die Studie geht zurück auf einen Antrag, den Drexler mit mehreren seiner Kollegen auf einer Delegiertenversammlung der LÄK Hessen im März 2013 einreichte. Ein Jahr später genehmigte die Versammlung die erforderlichen Mittel in Höhe von 125.000 Euro und beauftragte eine Forschungsgruppe der Philipps-Universität Marburg unter Leitung des Erziehungswissenschaftlers Professor Benno Hafeneger mit dem Projekt.

Mitte 2016 soll die Untersuchung abgeschlossen sein und als Buch veröffentlicht werden.

Dass es seit Kriegsende 70 Jahre dauerte, bis die erste Landesärztekammer in Deutschland eine solche Studie in Auftrag gab, wundert Drexler, der Mitglied im Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte ist, nicht.

"Manche Ideen müssen reifen", sagt der Arzt und verweist unter anderem darauf, dass nicht wenige NS-belastete Ärzte die Geschicke ihrer Standesorganisation nach Kriegsende mitgeprägt haben und die Rufe nach dem berühmten Schlussstrich bis heute widerhallen. Seit den 1990er Jahren sei eine Flut von Publikationen zum Thema Medizin und Nationalsozialismus veröffentlicht worden, unter ihnen jedoch nur wenige systematische Abhandlungen.

Die meisten Studien hätten sich Teilaspekten gewidmet, während es ihm und seinen Kollegen darum gegangen sei, die Strukturen offenzulegen und zu ergründen, warum gerade so viele Ärzte die Ideologie der Nationalsozialisten teilten.

"Überraschend und bestürzend"

Ohne das Wissen um die Vergangenheit wären die Art und die Ergebnisse der aktuellen Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit zum Beispiel über die Würde des Menschen, über Sterbehilfe oder die Menschenrechte nicht denkbar", schreibt Drexler im Vorwort zur Veröffentlichung der Zwischenergebnisse. Die Untersuchung habe schon jetzt "Überraschendes, Irritierendes und Bestürzendes" hervorgebracht.

Überrascht habe ihn vor allem der hohe Organisationsgrad hessischer Ärzte in den NS-Organisationen, sagt er im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Die Mitgliedschaften hat man anhand von Karteikarten jener 4603 Ärzte aus den Gauen Hessen-Nassau und Kurhessen, die von der Reichsärztekammer 1944 verfilmt wurden, exakt benennen können.

Danach gehörten 38,1 Prozent aller hessischen Ärzte dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) an. Die Mitgliedschaft hessischer Mediziner in der NSDAP lag den Untersuchungen zufolge signifikant über dem Reichsdurchschnitt.

"Was mich am meisten irritiert hat, war die Geschwindigkeit der Gleichschaltung", meint Drexler, der zwölf Jahre lang Mitglied des Präsidiums der Kammer Hessen und zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender der Bezirksärztekammer Frankfurt am Main war.

Jüdischer Arzt seines Amtes enthoben

In den Zwischenergebnissen der Studie heißt es, dass die hessischen Ärztekammern bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 "eine grundlegende Umstrukturierung, motiviert durch eine Mischung aus vorauseilendem Gehorsam, Verteidigung der ärztlichen Standesinteressen, deutsch-völkischen Überzeugungen und Anbiederung an den Nationalsozialismus", vollzogen.

Zu den ersten Beschlüssen der Kammer gehörte danach, den hessischen Innenminister um die Ansetzung von Neuwahlen der Kammermitglieder zu bitten, verbunden mit dem Angebot, den "freiwilligen Rücktritt" einzelner Mitglieder zu veranlassen.

In dessen Folge wurde etwa der jüdische Arzt Sanitätsrat Dr. Alphons Fuld seines Amtes als stellvertretender Vorsitzender der Hessischen Ärztekammer enthoben. Bestürzend schließlich findet Drexler, "in welcher Weise die Alten nach dem Krieg sofort wieder in einflussreiche Positionen gelangten".

Allen voran der Ex-Schriftleiter des "Hessischen Ärzteblatts" Dr. Carl Oelemann, der 1933 zunächst "die reinen Ziele des Nationalsozialismus" betont hatte, nach Einstellung seines Blatts dann aber seinen Posten verlor und bis 1945 als Badearzt in Bad Nauheim praktizierte.

"Außerordentlich merkwürdig", findet Drexler dessen zwölfjähriges "Überwintern". 1946 wurde Oelemann zum Präsidenten der "Ärzteschaft Groß-Hessen" ernannt.

Vom Nazi zum Widerständler

In einem Fragebogen des US-Militärs hatte er sich zuvor als Widerständler geriert, dessen Einsatz gegen den Schriftleiter des Nationalsozialistischen Ärzteblattes ("Weckruf zum Volksgesundheitsdienst") ihn beinahe ins KZ gebracht habe.

Tatsächlich jedoch ließ sich Oelemann nach dem Krieg zum Fraktionsvorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei (NDP), einer rechtsextremen Splitterpartei, in den Bad Nauheimer Stadtrat wählen und half dabei, Kollegen, die sich für die Nazis engagiert hatten, den Besatzern gegenüber zu entlasten.

Ob unter jenen auch der berüchtigte KZ-Arzt Dr. Aribert Heim ("Dr. Tod") war, der Ende der 1940er Jahre im Bürgerhospital Friedberg arbeitete und in der Saison 1947/48 für den VfL Bad Nauheim Eishockey spielte, sei noch zu klären, so Drexler.

Den deutschen Ärzten, so sein Fazit, sei im System des NS-Staats eine überaus wichtige Funktion zugekommen. "Die Nazis profitierten nicht nur vom Renommee der Ärzte; ihre Rassenideologie bekam durch die Einbeziehung der Mediziner auch einen wissenschaftlichen Anstrich."

Nachdem Hessen den Anfang gemacht hat, wünscht sich Drexler, dass andere Kammern folgen und Geschichte aufarbeiten lassen. "Die Geschichte ist der Schlüssel zum Verstehen der Gegenwart", sagt er. "Jede Generation muss aufs Neue eine Antwort auf die Frage finden, was die Gräuel der Nazizeit mit ihr selbst zu tun haben."

Lesen Sie dazu auch: Ärzte in der Nazi-Zeit: Kammergeschichte voller Widersprüche

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