Barrierefreies Marburg

Wo Sehende zu Blinden werden

Dunkelampel, Blindenleitsysteme und tastbare Pläne: Sehbehinderte erkunden in Marburg barrierefrei die Stadt. Und Gesunde können im Experiment blind werden.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Zum Ertasten ausgelegt: Das Marburger Schloss speziell für Blinde.

Zum Ertasten ausgelegt: Das Marburger Schloss speziell für Blinde.

© Gesa Coordes

Marburg. Sie piepsen und fiepen, brummen und summen: Die erste Blindenampel Deutschlands wurde 1971 am Fuß der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg eingerichtet. Heute haben fast alle Lichtzeichenanlagen der Universitätsstadt akustische Signale.

In der Innenstadt sind nur drei Ampeln im Marburger Südviertel noch ohne Geräusche. An ihnen trainieren Blista-Schüler, wie sie auch ohne akustische Signale über die Straße kommen - sie hören, wenn die Autos vor der Ampel stoppen.

Die ganze Stadt hat sich auf die jungen Leute mit den weißen Langstöcken eingerichtet. Unauffällig für Sehende, aber fühlbar für Blinde, führen Rillenwege über große Plätze. Noppenpflaster gibt es vor Ampeln und an wichtigen Abzweigen. Und an vielen Bushaltestellen sagt das Fahrgastinformationssystem per Knopfdruck die Ankunft der nächsten Busse an.

Sprechende Geldautomaten und Stadtführungen für Blinde

Die Schwimmbäder haben Blindenleitsysteme, das größte Kaufhaus, das Sportstadion und das Sozialamt haben tastbare Grundrisspläne. Es gibt sogar sprechende Geldautomaten und Theater mit Audiodeskription. In mehr als 30 Cafés und Restaurants in Marburg gibt es Speisekarten in Brailleschrift.

Blinde und Sehbehinderte haben die Wahl zwischen sechs verschiedenen Führungen durch die Stadt. Die eigens ausbildeten Gästeführer horchen gemeinsam mit ihren Besuchern auf den Marburger Gockel am Rathaus, der zu jeder vollen Stunde mit den Flügeln schlägt, während der Trompeter seine krächzenden Töne von sich gibt. Sie tasten die Dominikanerpforte an der Alten Universität, die Verzierungen an den Fachwerkhäusern und das Stadtwappen an der Rathaustür ab.

Als barrierefreies Modellprojekt erstrahlt der Marburger Bahnhof mit seinem neu gestalteten Vorplatz. Mehrere Leitwege und die einzige "Dunkelampel" Deutschlands führen sicher zu den Gleisen. Die ungewöhnliche Ampel auf dem Bahnhofsvorplatz wird nur bei Bedarf von Blinden ausgelöst und zeigt dann auch nur für Autos und Busse Rot - für die Fußgänger gibt es ausschließlich akustische Signale.

Experiment für Gesunde: Kaffee trinken in völliger Dunkelheit

In der Eingangshalle können sich Sehbehinderte an einem tastbaren Plan orientieren, der neben DB-Reisezentrum, Schließfächern und Toiletten auch Brezelbäcker, Buchhandlung und Café zeigt. Die Handläufe zu den Gleisen sind mit Brailleschrift versehen. Seit dem Umbau gilt der Bahnhof damit tatsächlich als "Visitenkarte der Stadt". 2015 wurde er als "Bahnhof des Jahres" ausgezeichnet.

Viele Projekte kommen auch Sehenden zugute: Ein beliebtes Ausflugsziel ist etwa der weltweit erste blindengerechte Planetenlehrpfad an der Lahn.

Wie die Türme der Elisabethkirche und der Dachfirst des Rathauses aussehen, zeigen die Marburger anhand von Bronzemodellen im Miniformat, die Marktplatz, Schloss, Elisabethkirche und ehemalige Synagoge. Fein gearbeitete Dachziegel, Gauben und Wasserspeier, Fachwerkbalken und Terrassen begeistern Blinde und Sehende gleichermaßen.

Im Dunkelcafé Finstaverne können Sehende ausprobieren, wie es sich anfühlt, ohne Augenlicht eine Kneipe zu besuchen. Damit sie nicht völlig hilflos durch die Dunkelheit tappen, führen blinde Helfer die Gäste zu ihrem Platz und balancieren Tabletts mit Essen und Getränken. Von Suppe raten die Organisatoren in dieser Kneipe allerdings ab. Da geht beim Löffeln einfach zu viel daneben.

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