Klinikärzte
Arbeitszeitrichtlinie wird oft missachtet
Mehr als jeder zweite Klinikarzt in Schleswig-Holstein überschreitet regelmäßig die Höchstgrenze, die in der EU-Arbeitszeitrichtlinie festgeschrieben ist. Das zeigt eine repräsentative Erhebung des Marburger Bundes.
Veröffentlicht:Immer mehr angestellte und verbeamtete Ärzte im Norden fühlen sich überlastet, weil sie zu wenig Kollegen haben, weil die Arbeit verdichtet wird und weil die Organisation in ihrem Haus nicht funktioniert. Die Arbeitszeitrichtlinie wird oft nicht eingehalten. Folge: 41 Prozent der befragten Ärzte erwägen, ihre derzeitige Tätigkeit aufzugeben.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Marburger Bundes Schleswig-Holstein zu den Arbeitsbedingungen und zur beruflichen Situation der Ärzte. Die Ärztegewerkschaft bezeichnete die Ergebnisse als alarmierend für die Ärzte und die Patienten. Beispiel Arbeitszeit: Hier gaben 38 Prozent der Befragten an, dass sie jede Woche zwischen 49 und 59 Stunden arbeiten, weitere 16 Prozent zwischen 60 und 79 Stunden und zwei Prozent liegen nach eigenen Angaben sogar über 80 Stunden.
Höchstgrenze liegt bei 48 Stunden
Damit liegen 56 Prozent der befragten Ärzte über der von der EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen Höchstgrenze von durchschnittlich 48 Stunden pro Woche. Schleswig-Holsteins MB-Chef Dr. Henrik Herrmann sagt zu diesem Punkt: "Arbeitszeitrechtliche Bestimmungen und fehlende Pausen gefährden nicht nur die Gesundheit der Ärzte, sondern können auch ein Sicherheitsrisiko für die Patienten darstellen." Kostendruck und eine dünne Personaldecke dürften keine Entschuldigung dafür sein, gesetzliche Vorschriften zu missachten, mahnte Herrmann. Er forderte die staatlichen Aufsichtsbehörden in diesem Zusammenhang auf, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften in Krankenhäusern regelmäßig zu prüfen.
Umgangen werden die Bestimmungen, indem die Arbeitszeiten schlicht nicht erfasst werden. Bei 24 Prozent der Befragten ist dies der Fall, bei weiteren 24 Prozent geschieht die Erfassung handschriftlich. Eine elektronische Stechuhr gibt es für 13 Prozent der Befragten. Bei 39 Prozent wird die Arbeitszeit nach einem EDV-gestützten Dienstplan erfasst. Erschwerend kommt hinzu, dass die Überstunden bei einem Viertel der Befragten weder vergütet, noch mit Freizeit ausgeglichen werden. 24 Prozent gaben an, dass Überstunden überwiegend vergütet werden, 51 Prozent erhält überwiegend Freizeitausgleich.
Berufsanfänger stark unter Druck
Herrmann hält diesen Umgang mit der Arbeitszeit für nicht akzeptabel. Als "tragende Säule" des Gesundheitssystems hätten Ärzte ein Anrecht auf ordnungsgemäße Dokumentation und Vergütung ihrer Leistungen, so Herrmann. Er fordert von den Kliniken, in jeder Abteilung ein transparentes und manipulationsfreies Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten.
Die Umfrage zeigt auch, dass die von den Ärzten empfundene Überlastung vor allem die Berufsanfänger betrifft. 93 Prozent der Ärzte in Weiterbildung fühlen sich überlastet. Dies ist der höchste Wert aller abgefragten Gruppen – am niedrigsten war dieser Wert mit 74 Prozent bei den Chefärzten. Starke Überlastungen empfinden mit 90 Prozent deren Stellvertreter, aber auch Fachärzte (87 Prozent) und Oberärzte (86 Prozent). Als wichtigsten Überlastungsgrund geben die Ärzte mit 83 Prozent Personalmangel an, gefolgt von Arbeitszeitverdichtung (73 Prozent) und Organisationsmängeln (58 Prozent). Bürokratie (51 Prozent) folgt erst an vierter Stelle.
Trotz dieser Ergebnisse sind die Ärzte nicht zwangsläufig auch mit ihrem Arbeitgeber unzufrieden. Jeder Zehnte ist sogar "sehr zufrieden", 51 Prozent sind "eher zufrieden". Auch hier zeigen sich wieder deutliche Unterschiede zwischen den Alters- und Hierarchiestufen. 24 Prozent der Chefärzte, aber nur acht Prozent der Weiterbildungsassistenten sind "sehr zufrieden." Zwischen den Geschlechtern dagegen gibt es in dieser Frage kaum Unterschiede. 37 Prozent der Ärztinnen und 41 Prozent der Ärzte sind unzufrieden mit ihrem Arbeitgeber. Immerhin 41 Prozent aller Ärzte sind bereit, ihren Arbeitgeber zu wechseln, 42 Prozent würden ihren Arbeitgeber folgerichtig auch nicht empfehlen. Herrmann sieht in diesen Zahlen auch ein "echtes Risiko für das Unternehmen Krankenhaus": "Es besteht dringender Handlungsbedarf für die Krankenhäuser, ihre Arbeitsplätze im ärztlichen Dienst unter Arbeitnehmer-Attraktivitätsgesichtspunkten zu prüfen und zu optimieren." Unterstützung bekommt er in dieser Frage von der Politik: Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kristin Alheit (SPD) nannte die festgestellte Unzufriedenheit der Ärzte "nicht akzeptabel". Sie rief Kliniken und Ärzte dazu auf, gemeinsam die Ursachen zu analysieren und für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Kliniken könnten im Wettbewerb um Fachkräfte nur mit guten Arbeitsbedingungen punkten, gab sie zu bedenken. CDU-Gesundheitsexperte Karsten Jasper nannte die Ergebnisse besorgniserregend. Er hält größere Anstrengungen in der Nachwuchsgewinnung für nötig, um mit mehr Personal die Überlastung zu bekämpfen.