Nachruf
Bernard Lown – Streiter für eine menschliche Medizin
Wenige Monate vor seinem 100. Geburtstag ist der Kardiologe Bernard Lown gestorben. Der Mitbegründer des IPPNW stritt bis zuletzt für eine nicht industrialisierte Medizin.
Veröffentlicht:Frankfurt/Main. Vor einer Woche wurde die Welt der Medizin von der Nachricht erschüttert, dass Bernard Lown in seinem Haus in Chestnut Hill bei Boston gestorben ist. Er wurde 99 Jahre alt. Knapp vier Monate trennten ihn von seinem hundertsten Geburtstag.
Kaum jemand hat mein ärztliches Leben so sehr beeinflusst wie Bernard Lown. Lange bevor ich das Glück hatte, ihn kennenzulernen, war mir sein Name geläufig. Wenn man in der Medizin tätig ist, muss man nicht unbedingt Kardiologe sein, um den Namen Lown gehört zu haben. Die Einteilung der Herzrhythmusstörungen ,nach Lown‘ gehört zum Grundwissen für jeden Medizinstudenten, für jeden Arzt.
Als Student habe ich diese Einteilung zur Kenntnis genommen und auswendig gelernt, mir bei dem Namen nichts weiter gedacht. Später habe ich dann überrascht festgestellt, dass es sich um den gleichen Bernard Lown handelt, der für bahnbrechende Erfindungen auf dem Gebiet der Kardioversion und der Defibrillation bekannt geworden ist, der sogar zu den Erfindern des Defibrillators gehörte, wie er heute in jeder Bahnhofshalle, in jedem Notfallkoffer zu finden ist.
Er stritt mit den Mächtigen der Welt
Wenn man noch dazu politisch interessiert ist, begegnet man dem Namen Lown schon wieder. Ist das wirklich der gleiche Mann, der gemeinsam mit dem russischen Kollegen Jewgenij Chasow 1985 den Friedensnobelpreis erhalten hat für den Kampf der von ihm mit gegründeten IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) gegen den Wahnsinn der weltweiten atomaren Aufrüstung? Ja, das ist der gleiche Mann!
Ist das der Gleiche, der mit Reagan, Gorbatschow und den Mächtigen dieser Welt gestritten hat, auf den sie sogar gehört haben bei den kleinen, mühsamen Schritten zu diesen und jenen Abrüstungsverträgen. Ja, das ist der gleiche Mann!
Aber nicht nur die IPPNW war seine Herzenssache. 1997 gründete er in Boston das „Ad Hoc Committee to Defend Healthcare“ gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Dann kam später noch „SatelLife“ hinzu, ein Online-Netzwerk zur Kommunikation mit Ärztinnen und Ärzten in Afrika. Sein Buch „Ein Leben für das Leben“ ist wie ein Tagebuch über den Kampf der IPPNW, seinen Widerstand gegen die Bedrohung durch die riesigen Atomwaffenarsenale und durch die „friedliche“ Nutzung der Atomenergie.
Auch wenn es wie eine Phrase klingt, so trifft es auf Bernard Lown doch zu: Bis zum letzten Atemzug gab er dem Kampf gegen den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens alle Kraft. Noch vier Wochen vor seinem Tod veröffentlichte er im Januar 2021 gemeinsam mit seinen Harvard-Kollegen Richard Cash und Jon Rohde im „New England Journal of Medicine“ einen flammenden Appell mit dem Titel: „Ärzte müssen aktiv werden gegen die erneute Bedrohung durch den nuklearen Holocaust“, in dem er eindringlich auf die ärztliche Verantwortung für den Weltfrieden hinwies.
Lown war ein berühmter Arzt. Lown war ein begeisterter Wissenschaftler. Lown war politisch, weil er von ganzem Herzen Arzt war. Und Lown war noch dazu ein begnadeter Erzähler. Diese Kombination war etwas besonders Wertvolles.
Einsatz für eine menschliche Medizin
Bernard Lown hat ein Buch mit dem Titel „Die verlorene Kunst des Heilens“ geschrieben. Vielfach übersetzt und weltweit diskutiert, hilft dieses Buch bis heute vielen Ärztinnen und Ärzten, nicht an den politischen und ökonomischen Zerstörungsattacken gegen die Humanmedizin zu verzweifeln, sondern für eine menschliche, nicht-industrialisierte Medizin zu kämpfen.
Mit dem Furor eines Mahners und Anwalts der Menschlichkeit geißelte Lown die Zerstörung der ärztlichen Profession durch die Industrialisierung des Gesundheitswesens: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“
Jammern war seine Sache nicht
Dieses Buch ist voller mitreißender Anklagen gegen eine technisierte, entseelte, profitorientierte Medizin. Aber Jammern war nicht Lowns Sache. Mit jeder seiner faszinierendenFallgeschichten wies er auch Wege zu einer Medizin, die wieder die Kunst des Heilens in den Mittelpunkt stellt und nicht die Kunst der Profitmaximierung. Jedem Arzt und jeder Ärztin, jedem Patienten und jeder Patientin ist dieses Buch zu empfehlen: Pflichtlektüre!
Die Biografie von Bernard Lown ist faszinierend und voller menschlicher, mutiger Taten. Kein Nachruf kann dem auch nur annäherndgerecht werden, aber zum Glück hat er uns mit seinen Büchern viel hinterlassen. Er hatte die einmalige Fähigkeit, Menschen für seine Visionen von einer Medizin frei von Profitinteressen und einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen zu begeistern.
Mit seiner Zuversicht konnte er überzeugen, seine Begeisterung war ansteckend. Ich hatte das Glück, ihn und seine kongeniale Frau Louise einige Male getroffen zu haben. Jedes Mal war ich danach beseelt von Kraft und Mut, die Welt verbessern zu können. Diese besondere Verknüpfung zwischen menschlichem Schicksal und ärztlichem Tun, diese einmalige Verbindung zwischen ärztlichem Denken und politischem Handeln, seine Weisheit und das Wissen vom Schicksal der Menschen und vom Schicksal der Menschheit, das war Bernard Lown. Er wird überall fehlen.
Dr. Bernd Hontschik
- Hontschik ist Chirurg, war lange an den Städtischen Kliniken Frankfurt-Höchst tätig und zuletzt in chirurgischer Praxis in Frankfurt am Main.
- Er ist regelmäßiger Kolumnist in der „Frankfurter Rundschau“ und Herausgeber der Reihe medizinHuman im Suhrkamp-Verlag.