Umverteilung in Berlin

Bislang kaum mehr als eine Absichtserklärung

In Berlin sollten mehr Ärzte und Psychotherapeuten in unterversorgte Bezirke ziehen. Die politischen Bemühungen zeigen nicht den erhofften Erfolg. Kurz vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus zieht der Gesundheitssenator aber ein positives Fazit.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Mario Czaja, der Berliner Gesundheitssenator

Mario Czaja, der Berliner Gesundheitssenator

© Paul Zinken / dpa

BERLIN. Der Letter of Intent (LOI) für eine bessere Versorgungssteuerung in Berlin zeigt "deutliche Wirkung". Dieses Fazit zieht der Berliner Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) rund drei Jahre, nachdem die Absichtserklärung unterzeichnet wurde und - was entscheidender sein dürfte - sieben Wochen vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin.

Tatsächlich nimmt der Wahlkampf im Land Berlin erst langsam Fahrt auf. Doch Czajas Bilanz zum LOI wird nur aus dieser Perspektive verständlich. Kurz vor Ende der Legislaturperiode geht es vor allem darum, Erfolge vorzuweisen. Das tut Czaja derzeit beinahe täglich mit Pressemeldungen und -konferenzen, sei es bei der Strategie 80Plus, der Schlaganfallversorgung, den Portalpraxen, Pflegestützpunkten oder hier bei der Versorgungssteuerung.

Marginale Effekte

"Wir haben Tempo gemacht und das zeigt Wirkung", so Czaja. 85,9 Prozent aller überbezirklichen Verlegungen von Arztpraxen sind nach seinen Angaben seit 2013 "bergab" erfolgt, also von besser in schlechter versorgte Bezirke. "Die Negativentwicklung in manchen Bezirken ist aufgehalten", betont der Politiker, die Trendwende sei geschafft. Czaja wies die Kritik der Opposition zurück, dass der LOI "weiße Salbe" sei. "Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden", sagte er.

Gemeinsam mit dem Regionalchef des Ersatzkassenverbandes vdek Berlin / Brandenburg Michael Domrös und dem Vize der KV Berlin Dr. Uwe Kraffel - der ebenfalls mitten im Wahlkampf steht – verkündete Czaja im Anschluss an die letzte Sitzung des Landesgremiums Mitte Juli.

158 Arztsitze sind in den zwei Jahren vom Juli 2013 bis zum Juli 2015 in unterdurchschnittlich versorgte Gebiete umgezogen. 85,9 Prozent kamen aus besser versorgten Bezirken. In die erwünschte Richtung bergab zogen den vorgestellten Daten der KV Berlin zufolge 137,5 Praxen. 23 Sitzverlegungen erfolgten "bergauf", also in besser versorgte Bezirke.

Besonders viele Umzüge bei Psychotherapeuten

Besonders viele Umzüge gab es bei den Psychotherapeuten, bei denen auch die krasseste Ungleichverteilung herrscht. 49 Psychotherapeuten-Praxen wurden in schlechter versorgte Bezirke verlegt, 6,5 in besser versorgte. Unter anderem sind aus Charlottenburg-Wilmersdorf 18 Psychotherapeuten weggezogen, Neukölln hat sechs hinzugewonnen, Marzahn-Hellersdorf zwei.

Unter den Berliner Hausärzten gab es 21,75 Sitzverlegungen bergab und sechs bergauf. Ein Blick in die Tabellen des Landesgremiums zeigt die Kehrseite der Wahlkampfparolen: Die Effekte dieser Umzüge auf die Versorgungssituation in den Berliner Bezirken sind marginal.

Der Versorgungsgrad mit Psychotherapeuten in Czajas Wahlbezirk Marzahn-Hellersdorf ist demnach auf 47 Prozent gestiegen. Anfang 2013 lag er bei 45,1 Prozent. In Neukölln verbesserte er sich von 83,7 auf 89,4 Prozent. In Charlottenburg-Wilmersdorf sank er von 558,3 auf 525 Prozent.

Bei den Hausärzten kann teilweise noch nicht einmal von einem Stopp des Negativtrends die Rede sein: In Marzahn-Hellersdorf sank der Versorgungsgrad mit Hausärzten von 109,8 auf 107,1 Prozent, in Lichtenberg von 97,4 auf 92,3 Prozent, in Neukölln stieg er von 99,1 auf 100,1 Prozent und im 2013 mit 95,9 Prozent am schlechtesten versorgten Bezirk Treptow-Köpenick sank der Versorgungsgrad weiter auf 93,1 Prozent.

Dabei spielt aber auch eine Rolle, dass zwischenzeitlich neue Einwohnerzahlen für die Berechnung herangezogen wurden, und die steigen in Berlin kontinuierlich.

Nur folgerichtig erscheint daher, dass das Landesgremium das Instrument zur Versorgungssteuerung schärfen will. Für die Zukunft gilt, dass Praxen nur noch in die drei am schlechtesten versorgten Bezirke verlegt werden sollen. Außerdem soll der LOI nicht mehr nur bei Umzügen, sondern auch bei Nachbesetzungen und eventuellen Neubesetzungen nach Aufhebung der Zulassungssperren greifen. Dieser Beschluss spricht eine andere Sprache als Czajas Bilanz.

Zulassungsausschuss nicht weisungsgebunden

Doch der LOI bleibt, was er war, nämlich eine Absichtserklärung. Der Zulassungsausschuss von Ärzten und Krankenkassen kann ihn umsetzen oder davon abweichen, denn er ist nicht weisungsgebunden. Deshalb betont Wahlkämpfer Kraffel, der Charme dieser Lösung sei, dass sie beweglich sei. Zur Erinnerung: Als Alternative stand am Anfang der Debatte die Rückkehr zu kleineren Zulassungsbezirken zur Diskussion.

Auch rechtssicher ist der LOI - noch - nicht. Mehrere Ärzte sind gegen Entscheidungen des Zulassungsausschusses vorgegangen, wenn ihnen ein geplanter Umzug unter Verweis auf den LOI nicht genehmigt wurde. Zwei dieser Auseinandersetzungen sind vor Gericht gelandet. Davon ist eine zugunsten des LOI entschieden. Doch das zweite Verfahren ist noch beim Bundessozialgericht anhängig.

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Kommentare
Anne C. Leber 30.08.201613:25 Uhr

Statement von Prof. Dr. Harald Mau

Im Streit um die Niederlassungsfreiheit in der Hauptstadt hat sich der Ehrenvorsitzende der Landesgruppe Berlin/Brandenburg des NAV-Virchow-Bundes und ehemalige Dekan der Charité Prof. Dr. Harald Mau zu Wort gemeldet. Gesundheitssenator Mario Czaja hatte der Ärzteschaft vorgeworfen, sie versuche rückwärtsgewandt ihre Besitzstände zu verteidigen. Dies erstaune ihn „angesichts des Erbes Rudolf Virchows“. Zu Unrecht, wie Prof. Mau nun richtigstellt:

Der Senator irrt und niemand wundert sich

Der Berliner Gesundheitssenator Mario Czaja ist erstaunt darüber, dass seine Planspielchen mit den Arztsitzen nicht den Beifall der Vertragsärzte finden und meint, dass gerade die unter dem Namen Virchows, nämlich im NAV-Virchow-Bund berufspolitisch organisierten Kollegen verpflichtet seien, seine Bemühungen zu unterstützen. Hier irrt der Senator. Sein Ziel, dass Ärzte dort sein sollen, wo sie gebraucht werden, wird uneingeschränkt unterstützt. Nur die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll, macht schon nachdenklich und ist denen, die unter Virchows Namen angetreten sind, ziemlich zuwider.

Der Virchow-Bund wurde gegründet, weil Ärzte von staatlicher Bevormundung, Gängelei und standespolitischer Rechtlosigkeit die Nase voll hatten und ihre Rechte im Sinne Virchows selbst wahrnehmen wollten.

Ich halte auf mein Recht, und darum erkenne ich auch das Recht der anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik in der Wissenschaft (1).

Seit seiner schlesischen Typhusreise unterschied Virchow, übernommen von seinem Freund Salomon Neumann, zwischen „künstlichen“ und „natürlichen“ Krankheiten, ausgehend von der sozialen Bedingtheit der damaligen Seuchen. Die heutige Mangel- und Fehlverteilung von Ärzten wäre in seinen Augen mit Sicherheit eine künstliche Krankheit, ein künstliches gesellschaftliches Leiden, denn weder Seuchen noch Naturkatastrophen noch Bevölkerungsexplosionen sind die Ursachen, sondern anhaltende falsche Anreize und dilettantischer Dirigismus. Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gehört nicht zum Virchow‘schen Erbgut. Auch die Erkenntnis, dass die ärztliche Profession immer eine soziale Dimension hat, war eher aus Protest und Zorn über das Versagen der Obrigkeit als durch Staatsbürgerpflicht induziert. Im Revolutionsjahr 1848 schrieb er

Das Gesetz half nichts, denn es war nur beschriebenes Papier; die Beamten halfen nichts, denn das Resultat ihrer Thätigkeit war wiederum nur beschriebenes Papier. Der ganze Staat war allmählich ein papierner, ein großes Kartenhaus geworden, und als das Volk daran rührte, fielen die Karten in buntem Gewirr durcheinander (2).

Virchow war liberal und national, fortschrittlich. Er zählte zu den Gründern der Fortschrittspartei. Aber niemals war er opportunistisch. Auch wenn sich im Preußischen Landtag mehr als 400 Abgeordnete Bismarck beugten, gehörte er zu den 75, die gegen Bismarck und die von ihm veranlasste Rechtsverletzung stimmten. Der Mangel an Begeisterung für die Czaja‘schen Letter of Intent und ihren Folgen hat nichts mit Besitzstandverteidigung und Rückwärtswendung zu tun, sondern mit unserer besonderen Verantwortung für unsere Patienten. Siehe oben!

Prof. Dr. Harald Mau
Ehem. Dekan der Charité
Mitbegründer des „Rudolf-Virchow-Bundes“
Ehrenvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, Landesgruppe Berlin-Brandenburg

(1) Virchow, R. Cellular-Pathologie. In: Arch. Path. Anat. Physiol. klin. Med. 8(1855),3-39, hier S.19
(2) Virchow, R. Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd.1 Berlin 1879 S.321


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